Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsabkommen:Abwehrfront am Ärmelkanal

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Großbritanniens Regierung zahlt Frankreich viel Geld, damit weniger Migranten übersetzen. Für Premier Sunak ist der neue Deal nur ein erster Schritt.

Von Michael Neudecker, London

Am Montagnachmittag tauchte plötzlich Boris Johnson wieder auf. Zum ersten Mal seit gut zwei Monaten meldete sich der Abgeordnete für Uxbridge und South Ruislip im Unterhaus zu Wort, es ging, wenn man richtig verstanden hat, um eine Polizeistation in seinem Wahlkreis, den der frühere Premierminister ja immer noch repräsentiert, auch wenn das zuletzt aufgrund der vielen Urlaubsfotos etwas untergegangen sein mag. Am Montagnachmittag stand in London unter anderem eine Fragerunde an die Innenministerin Suella Braverman auf dem Programm, Braverman sagte, die Einlassungen ihres Right Honourable Friend seien "wie immer sehr sinnvoll". Bald danach verließ Johnson die Kammer wieder, aber das kann man ihm kaum vorwerfen. Die Debatten im Unterhaus jenseits der mittwöchlichen Show "Prime Minister's Questions" sind meist spärlich besucht, die Bänke sind zum großen Teil leer.

Die Debatten der Anwesenden zu verfolgen, kann dennoch aufschlussreich sein, zumal Montag für Braverman ein wichtiger Tag war: Am Morgen war sie noch in Paris, um ein Flüchtlingsabkommen mit Frankreich zu unterzeichnen. Das Innenministerium verkündete den "Deal" mit einigem Stolz, mit Bildern und Videosequenzen, wie Braverman in Paris ankommt, aus einem großen Auto aussteigt und später neben ihrem französischen Kollegen Gerald Darmanin ihre Unterschrift unter das Dokument setzt. Das allerdings änderte nichts daran, dass Bravermans Deal zu Hause nicht gerade gut ankam, weder in der eigenen Partei noch in der Opposition noch in der Öffentlichkeit. Der Tory-freundliche Daily Telegraph widmete der Angelegenheit in seiner Printausgabe am Dienstag ein paar Zeilen auf Seite 6, unter einem großen Bild von Menschen beim Golfspielen.

Premierminister Rishi Sunak sagte am Dienstag während des G-20-Gipfels in Bali, genau deshalb habe er Braverman ins Innenministerium zurückgeholt, nur eine Woche nach ihrem Rücktritt unter Liz Truss: damit sie sofort aktiv werde und Abkommen wie jenes mit Frankreich vorantreibe. Allerdings, gab er zu, sei das "nicht das Ende der Geschichte", lediglich ein erster Schritt. Dieser erste Schritt, der genau genommen eher ein Trippeln auf der Stelle ist, sieht etwa vor, dass Frankreich die Zahl seiner Grenzbeamten am Kanal zwischen England und Frankreich von rund 200 auf 300 erhöht, außerdem darf ein britischer Beamter künftig im Kontrollzentrum in Calais dabei sein, wenn auch nur "beobachtend", wie es in dem Abkommen heißt. Zudem sollen nun Drohnen eingesetzt werden. Das Vereinigte Königreich muss dafür seine jährlichen Zahlungen an Frankreich um rund neun Millionen Euro auf dann etwas über 80 Millionen Euro erhöhen.

40 000 Menschen sind in diesem Jahr schon illegal über den Ärmelkanal gekommen

Die Flüchtlinge, die nahezu täglich die gefährliche Reise zwischen Frankreich und England in Booten im Ärmelkanal antreten, sind in beiden Ländern seit längerer Zeit ein Dauerthema. Im Vereinigten Königreich sind sie auch ein Sinnbild für die nicht funktionierende Flüchtlingspolitik. Vor ein paar Tagen wurde die Zahl von 40 000 Menschen, die auf diese Weise in diesem Jahr nach England gelangten, überschritten, so viele waren es noch nie. Das Königreich, behauptete ein Tory-Abgeordneter am Montag im Unterhaus, sei das attraktivste Land in Europa, deshalb wollten so viele hierher. Die Realität sieht allerdings anders aus, als der rechte Flügel der Konservativen immer wieder glauben machen will: Laut UN-Datenbank haben im laufenden Jahr 2022 die Türkei (3,7 Millionen) und Deutschland (2,2 Millionen) die meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen. Das Vereinigte Königreich taucht mit 232 000 Geflüchteten relativ weit hinten in der Tabelle der europäischen Länder auf; Polen, Frankreich, Tschechien, Italien, Schweden, Spanien, Österreich, sie alle nehmen mehr Flüchtlinge auf als das Vereinigte Königreich.

Neben der wirtschaftlichen Krise ist Migration dennoch das zweitwichtigste Thema auf der politischen Agenda, auch Premierminister Rishi Sunak betonte dies nun noch einmal. Dabei taumeln die Tories zwischen Wählerbasisberuhigung und Wirklichkeit. Manche Abgeordnete beschweren sich, dass die über den Kanal "illegal" ankommenden Geflüchteten auch nach dem neuen Abkommen nicht direkt abgeführt werden dürften, andere monieren die Unterbringung von Geflüchteten in Hotels. Der Tory-Abgeordnete Luke Evans wiederum erzählte am Montag im Unterhaus, in seinem Wahlkreis gebe es ein Hotel, das mehrmals schon Sicherheitsprüfungen nicht bestanden habe, insbesondere bestehe Brandgefahr. Nun aber habe er erfahren, dass das Innenministerium in just diesem Hotel Flüchtlinge untergebracht habe, was er nur mühsam habe verifizieren können. "Das ist inakzeptabel", sagte Luke Evans zu Suella Braverman. Ob sie sich mit ihm treffen werde, um darüber zu sprechen? Braverman wirkte überrascht, dass Evans sich daran störte.

Immerhin eines aber wird auf der Insel derzeit wohlwollend registriert. Teil des Problems war bislang ja auch der Umgangston zwischen den französischen und britischen Spitzenpolitikern - die noch vor Kurzem amtierende Premierministerin Liz Truss etwa sagte allen Ernstes auf die Frage, ob der französische Präsident "Freund oder Feind" sei, das müsse man noch sehen. Sunak bemüht sich nun um einen freundlicheren Tonfall. Für kommendes Jahr ist gar eine gemeinsame Konferenz im Königreich geplant, es soll dabei vor allem um das Problem im Kanal gehen.

Wie drängend das Problem ist, zeigt schon ein Blick in den Kalender: Kommende Woche jährt sich das Unglück vom November 2021, als 27 Geflüchtete im Kanal ertranken. Sie alle waren in einem Schlauchboot unterwegs.

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