Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Brown ist die Hoffnung

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Mehr als 20 Prozentpunkte lagen die Tories in Umfragen schon vorne - kurz vor der Wahl ist Browns Labour-Partei fast wieder auf Augenhöhe. Warum der Vorsprung Camerons geschrumpft ist.

Gökalp Babayigit

Englands Labour-Partei trauert um einen ihrer Großen. Als Michael Foot vor zwei Tagen im Alter von 96 Jahren starb, erinnerte sich die politische Elite mit Wehmut an den Grandseigneur von Old Labour. Foot war aus einer anderen Zeit: ein Intellektueller, brillanter Redner, unverbesserlicher Idealist und Herzblutpolitiker - aber als Vorsitzender führte er 1983 seine Partei in eine der katastrophalsten Niederlagen, die Labour je erleben musste.

Wie werden die Nachfahren in ferner Zukunft wohl über Gordon Brown urteilen, wenn er sich von der Politik zurückgezogen hat? Es mehren sich Zweifel daran, dass der hölzern wirkende und als Choleriker verschriene Premierminister, der an diesem Freitag vor dem Irak-Untersuchungsausschuss aussagen muss, nach der Unterhauswahl im Mai sein Büro in der Downing Street 10 wirklich räumen muss. Gordon Brown - der unbeliebteste Parteichef, der Wahlen gewinnen konnte?

Es wäre schon ein denkwürdiges Comeback, falls Labour die Wahl am 6. Mai gewinnen sollte. Vor weniger als zwei Jahren waren die Konservativen um Sunnyboy David Cameron in den Umfragen meilenweit enteilt. Mehr als 20 Prozentpunkte lagen zwischen den Parteien. Doch der Vorsprung schmolz und schmolz weiter - bis vor wenigen Tagen die neueste Umfrage Labour nur noch fünf mickrige Punkte hinter der Tory-Partei sah. Was war passiert?

Dass die Sozialdemokraten wieder im Rennen sind, haben sie freilich allem, nur nicht der Persönlichkeit Browns zu verdanken. Sein TV-Auftritt, als ihm bei einem Gespräch über seine tote Tochter die Tränen kamen, war nicht der ausschlaggebende Grund für das Revival von Labour. Nicht zuletzt die Enthüllungen des Journalisten Andrew Rawnsley, die mit Dutzenden Zeugenaussagen Brown als brüllenden und Dinge um sich werfenden Heißsporn beschreiben, sorgen dafür, dass Brown wohl niemals ein vom Volk geliebter Premier sein wird.

"Wir sind sehr wohl imstande, Politiker zu wählen, die wir nicht mögen", sagt Kieron O'Hara, Fellow am Centre for Policy Studies (CPS), einem eher dem konservativen Lager angehörenden Londoner Thinktank. Vor allem, wenn sie mit Inhalten und Kompetenzen aufwarten können. Die Tory-Partei hat es versäumt, aus dem Meinungstief des politischen Gegners zu profitieren und mit Inhalten zu glänzen. Die geplanten Maßnahmen der Konservativen zur Bekämpfung des riesigen Haushaltsdefizits lassen die Wähler etwas ratlos zurück - und verärgern sie bisweilen auch.

Vote for Change, so lautet in Anlehnung an Barack Obamas erfolgreiche Kampagne der Wahlkampfslogan der Tories. Aber wie dieser Wechsel aussehen soll, will nicht so recht rüberkommen. Die Konservativen haben ein Kommunikationsproblem. Die Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen - einer der wichtigsten Punkte im Programm - verfängt nicht. Hinzu kommt, dass der ansonsten so smarte Cameron schon mal den Faden verliert, wenn er Versprechen zur finanziellen Förderung von Ehepaaren gibt und diese an einem Tag zwei Mal korrigieren muss. Punktsieg für Labour: Browns Boni-Steuer für Banker kam dagegen gut an im Wahlvolk. "Die Menschen sehen im Labour-Lager das erfahrenere Team mit mehr Kompetenz", sagt O'Hara. Die beängstigende Finanzkrise, die Brown mit Entschlossenheit anpackte, habe auf jeden Fall Labour in die Hände gespielt.

"Das ist keine Zeit für einen Anfänger", kommentierte Brown denn auch schon im Jahr 2008 Camerons Ambitionen auf das Amt des Premiers. Mehr denn je scheint dies nun beim Wähler anzukommen. Denn Cameron hat ein sehr junges Team um sich geschart. George Osborne, Schatzkanzler im Schattenkabinett, ist 38 Jahre alt; William Hague, der Außenminister werden soll, ist 48; Schatten-Gesundheitsminister Michael Gove ist 42, Cameron selbst wird im Oktober 44. Die Gruppe, die vor zwei Jahren von der Times noch als bestes Tory-Team seit 50 Jahren tituliert wurde, verblasst im Vergleich zu den krisenerprobten Labour-Ministern. "Sie sind alle sehr ähnlich, sie sind jung, sie sind schlau, aber sie sind auch ein wenig glatt", sagt O'Hara über die Tory-Vorderbänkler, "und wirken wie spielende Jungs in der großen Welt der Politik."

Eine Chance, als stärkste Partei aus der Wahl im Mai hervorzugehen, haben die Tories freilich immer noch. Doch das politische System Großbritanniens wird voraussichtlich einen klaren Sieger verhindern. Als dritte Partei mischen die Liberaldemokraten kräftig mit. Umfragen sehen sie zwischen 16 und 19 Prozent.

Doch wenn eine dritte Partei so kräftig mitmischt und die zwei großen Parteien so eng beieinanderliegen, dann macht das in Großbritannien existierende Mehrheitswahlrecht klare Verhältnisse unmöglich: Das Unterhaus wird mit drei großen Parteien zum "hung parliament" - zum hängenden Parlament, in dem keine Partei aus eigener Kraft die absolute Mehrheit stellen kann.

Ein Albtraumszenario für diejenigen, die sich von der Regierung angesichts der prekären Lage des Landes entschlossenes Handeln und vom Abgeordnetenhaus schnelle Entscheidungen herbeisehnen. Doch auch mit dieser Situation wird die politische Klasse umzugehen wissen, was sie vor 35 Jahren schon einmal bewies.

Im Februar 1974 gewann Labour-Chef Harold Wilson die Wahl gegen Amtsinhaber und Tory Edward Heath. Das Problem bestand darin, dass Labour aber keine Mehrheit im Unterhaus innehatte, weil die Tories nur knapp geschlagen waren und auch die Liberaldemokraten ein passables Ergebnis eingefahren hatten - ein Novum in der britischen Nachkriegsgeschichte. Acht Monate später schon ließ Wahlsieger Wilson neue Wahlen ausrufen. Im Oktober desselben Jahres sollten die Sozialdemokraten dann die erforderliche Mehrheit erreichen.

Um solche vermeintlich instabilen Verhältnisse zu verhindern, gäbe es eine Lösung, für die sich vor allem die Liberaldemokraten als die drittstärkste Partei stark einsetzen: Das First-past-the-post-System, das Mehrheitswahlrecht müsste ersetzt werden mit einem Verhältniswahlrecht.

Doch ob diese umwälzende Reform jemals Realität wird, bezweifelt Kieron O'Hara nicht nur wegen des Traditionsbewusstseins und der urbritischen Grundskepsis gegenüber Politik auf Basis der Kompromisssuche, wie sie in Koalitionen betrieben werden muss. "Wir werden bis zur Wahl der Politik überdrüssig sein", sagt der Politologe. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir nach diesem voraussichtlich sehr langweiligen Wahlkampf noch die Lust und den Ehrgeiz haben werden, eine Debatte über das Wahlrecht zu führen."

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