Globalisierung des Antisemitismus:Wie Nachbarn zu Hassobjekten werden
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Früher waren viele Deutsche gegen Juden, weil diese den Heiland gekreuzigt haben. Heute setzen sie Juden mit Israelis gleich, deren Bomben Kinder töten. Der Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel um Gaza wird zum weltweiten Netz- und Medienkrieg.
Ein Gastbeitrag von Ulrich Beck
Alexander Mitscherlich hat nach dem Zweiten Weltkrieg ein Buch mit dem Titel "Die Unfähigkeit zu trauern" geschrieben. Damit meinte er die Unfähigkeit der Deutschen, mit dem Nazi-Regime und dem Holocaust umzugehen. In dieser Hinsicht haben wir wohl Fortschritte gemacht. Aber jetzt mit dem Krieg zwischen Israel und Hamas, der ein Wachstum oder eine größere Sichtbarkeit des Antisemitismus in Europa verursacht hat, tritt eine andere Unfähigkeit hervor: die Unfähigkeit zu unterscheiden.
Wir - viele Deutsche und andere Europäer - setzen deutsche, französische, italienische Juden mit Israelis gleich. Plötzlich werden die Nachbarn wieder zu Juden gemacht und damit wieder zu Ausländern in ihrem eigenen Land, in Deutschland, Frankreich, Italien und andernorts. Und diese Unfähigkeit zu unterscheiden - die Tatsache, dass alle Juden mit Israelis gleichgesetzt werden und alle Israelis mit Palästinenserkillern - ist ein wesentlicher Hintergrund für die neue Welle des Antisemitismus.
Juden werden mit Israel gleichgesetzt
Ein Beispiel: Jemand sagt einem deutschen Juden, der in Berlin lebt, "bei euch zu Hause schlagen jetzt die Raketen ein". Meint er, der Kudamm steht unter Raketenbeschuss?
Ein anderes Beispiel: In einer Rezension eines französischen Films in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Juli schreibt die Rezensentin Lena Bopp, wie in diesem Film ein Mann beklagt, dass nun "auch seine jüngste Tochter in die Hände eines Mannes ausländischer Herkunft geraten sei", und schon seine älteren Töchter hatten Ausländer geehelicht, "den Chinesen Chao, den Moslem Rachid und den Juden David".
In dieser Darstellung werden so französische Bürger als Ausländer ausgegrenzt. Die Gleichsetzung von Juden, die häufig säkular und manchmal israelkritisch eingestellt sind, mit Israelis gewinnt gegenwärtig angesichts der Taten und Bilder des Grauens eine neue Bedeutung.
Der Konflikt lässt sich nicht mehr auf einen Ort eingrenzen
Gerade in Frankreich spricht man wieder von einem neuen Antisemitismus. Das Neue, wenn es das gibt, ist die Globalisierung des Nahost-Konflikts. Die Auseinandersetzung in Palästina findet nicht nur dort, sondern auch in Paris, in Berlin und in Rom statt. Es gibt einen Antisemitismus der Linken, einen Antisemitismus der Migranten, einen Antisemitismus der Leute, die Benachteiligung in den Ankunftsländern erfahren und in einem religiösen Antisemitismus in ihren Herkunftsländern sozialisiert wurden. Das alles entlädt sich in Gewalt. So verschränken und verstärken sich wechselseitig die Globalisierung des Konflikts und die Globalisierung des Antisemitismus.
In der vernetzten, digitalisierten Welt lässt sich ein kriegerischer Konflikt nicht mehr auf einen Ort eingrenzen. Es ist auch ein Netz- und Bildschirmkrieg: Die Hamas versteckt offenbar Raketenbasen in Krankenhäusern und Schulen, um mit herzzerreißenden Bildern der Bombenopfer die Weltöffentlichkeit zu gewinnen und den Antisemitismus zu schüren.
Wichtige Stimmen der jüdischen Gemeinden in Europa haben in den letzten Tagen behauptet, dass, wenn es so weitergehe, die jüdische Kultur und das jüdische Leben aus Europa verschwinden könnten. Diese Prognose stellt einen Hilferuf dar. Die jüdischen Menschen - Franzosen, Deutsche, Italiener und so weiter -, die sich als Bürger Europas verstehen, sehen sich plötzlich wieder gezwungen, ihre jüdische Identität zu verbergen oder Gewaltattacken zu riskieren. Dementsprechend gibt es eine neue Auswanderungswelle nach Israel, wobei viele Franzosen wohl tatsächlich die Lebensform des doppelten Wohnsitzes wählen.
Das alles macht darauf aufmerksam, dass die Übertragung der Konflikte in die europäischen Städte eine ernsthafte Gewaltbedrohung ist: Selbst eine Art Intifada in Frankreich ist nicht mehr auszuschließen, und allein dieser Gedanke muss bei den meisten Juden die schlimmsten Erinnerungen wecken. Sie fühlen sich als ungeliebte Ausländer in Europa, als zu Ausländern ausgegrenzte und degradierte europäische Staatsbürger, als Fremde in ihrem europäischen Heimatland, in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Die Erinnerung an die Erfahrung der deutschen Juden zu Beginn des Nazi-Regimes wird wach: Aus Nachbarn werden Juden, Ausländer, Hassobjekte.
Die Situation im Nahen Osten verstehen viele Europäer nicht
Die israelische Militärreaktion ist sehr hart: Es gibt viele Tote. Die Hamas hat mehr militärische Fähigkeiten als erwartet gezeigt. Ohne eine falsche Äquidistanz zu behaupten: Beide Seiten haben sich ins Militärische verbissen. Die Situation im Nahen Osten ist für viele Europäer nicht mehr verständlich. Uns fehlen die Begriffe, vielleicht auch die Gefühle des Hasses und der Glaube, diesen Urkonflikt mit militärischen Mitteln lösen zu können.
Mich erinnert das an den bitterbösen Satz von Henry Kissinger: Es gibt keine Lösung für den Nahost-Konflikt. Der Hass ist zu tief verwurzelt. Und immer noch, immer wieder setzen beide Seiten ausschließlich auf kriegerische Mittel. In Israel sieht man nur die Möglichkeit einer militärischen Lösung, keine Verhandlungslösung.
Auf der anderen Seite stand die Hamas schon vor dem Krieg vor dem Bankrott, und sie ist jetzt dabei, ihre letzte Machtposition einzubüßen. Trotzdem ist sie als Verhandlungspartner gefragt und gewinnt so neue politische Bedeutung. Beides verführt zu der Fortsetzung des militärischen Konflikts, wobei aus der europäischen Friedenssicht die militärischen Mittel den Konflikt immer weiter vertiefen, aber niemals zu einer Lösung führen können.
Israel handelt gegen die eigenen langfristigen Interessen
Ist Israels aus Existenznot gespeister Monomilitarismus tatsächlich unverzichtbar, oder sollte gerade Israel nicht auch seine Raison d'être neu denken? Ich habe ganz grundsätzlich eine Scheu, aus der sicheren Friedensposition Europas, und insbesondere Deutschlands, den Israelis einen Rat zu geben.
Lieber zitiere ich den ermordeten früheren israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin: "Frieden wird nicht zwischen Freunden, sondern zwischen Feinden geschlossen. Wer den Frieden will, muss als Erster die Hand reichen." Er hat damit gemeint, um den Frieden zu erreichen, muss man sich mit Feinden an einen Tisch setzen. Diese realistische Bereitschaft vermisse ich auch in Israel, aber auch vollständig bei der Hamas, die die Auslöschung Israels zum ultimativen Ziel erhoben hat.
Haben heute in Israel nur noch die Staatsfundamentalisten und Hardliner das Sagen? Das gegenwärtige Israel setzt wieder stärker auf militärische Überlegenheit als zuvor. Es reagiert unter dem Einfluss der sich zuspitzenden Existenzbedrohung und der Erfahrung des Terrors mit Verzweiflung und Hass auf die Bomben der Hamas, und es treibt so die Gewaltgeschichte weiter voran, gegen die eigenen langfristigen Interessen.
Die Notwendigkeit und Bereitschaft, sich auf die großen Leitfiguren der israelischen Politik neu zu besinnen, wäre gerade von Ministerpräsident Netanjahu zu verlangen, weil er als Konservativer der Einzige ist, der eine solche Wende vollziehen könnte. Aber ausgerechnet Netanjahu müsste diesen Schritt in Opposition gegen den Rechtsruck in der israelischen Bevölkerung wagen. Dieses "Wunder der Politik" (Hannah Arendt) ist ihm nicht zuzutrauen.
Viele militärische Mächte üben Gewalt aus: Russland in Tschetschenien, Georgien oder jetzt in der Ukraine, oder die USA von Präsident Bush im Irak. Aber nur wenn es israelische Soldaten sind, die zivile Opfer verursachen, gibt es solche großen Massendemonstrationen in Europa wie heute. Wo liegt der Unterschied: Sind die, also die Israelis, böser als Putins oder Bushs Spezialeinheiten? Oder sind die russischen und die amerikanischen Soldaten Arier?
Diese Fragen treffen den Kern des Problems. Der militärische Einsatz von Putin wird zum Beispiel von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung als verständlich verteidigt, und zwar mit Argumenten eines ethnischen Nationalismus, der darauf beruht, dass Russen in der Ukraine ein Recht haben, zu Russland zu gehören. Auf der anderen Seite wird auf die unerträgliche Zuspitzung der militärischen Gewaltaktionen im Nahen Osten mit antisemitischen Protesten geantwortet - mit schamlosen Protesten, die eine neue Qualität in Deutschland und Europa darstellen.
Das zeigt nicht nur jenen "Bodensatz an Antisemitismus", den es angeblich immer gibt, sondern weit mehr: dass der Antisemitismus in der globalisierten Welt eine neue Entflammbarkeit gewonnen hat. Früher sind wir gegen die Juden gewesen, weil sie unseren Heiland gekreuzigt haben; heute setzen wir Juden, wo immer sie leben, mit Israelis gleich, weil Bomben der Israelis palästinensische Kinder töten.
Verpflichtung, das Schweigen über Nahost zu brechen
Engagement und Einmischung sind eine Tradition der europäischen Intelligenzija. Warum dann dieses Schweigen der Intellektuellen über Nahost? Dieses Schweigen resultiert wiederum aus der Unfähigkeit zu unterscheiden, dieses Mal zwischen einer Israelkritik und einem klaren Engagement gegen Antisemitismus und für die europäischen Werte, die auch viele Bürger jüdischen Glaubens als ihre Werte verteidigen.
Dieser Balanceakt, im Milieu des wiedererstarkten Antisemitismus dreierlei Kritik zu üben: an dem Fanatismus der Hamas, an Israels Monomilitarismus und an der Unfähigkeit zu unterscheiden, die den Antisemitismus in Europa neu entfacht, wirkt möglicherweise überheblich, kostet Mut, erzeugt Missverständnisse auf allen Seiten. Das lähmt, das macht es schwierig, ein Urteil zu fällen, ohne in die offenen Fallen des Antisemitismus zu tappen. Doch die Verpflichtung, die aus der Ethik des "Nie wieder" hervorgeht, fordert, das Schweigen endlich zu brechen.