Süddeutsche Zeitung

Gesellschaft:Wenn freie Bildung machtlos gegenüber Diktaturen ist

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Kim Jong-un und Baschar al-Assad durften an westlichen Lehranstalten erfahren, was Freiheit, Menschenrechte und Demokratie bedeuten. Und doch treten sie sie jetzt mit Füßen.

Wie wird man eigentlich Diktator? Braucht man dafür ein besonderes Rüstzeug, eine Ausbildung zur Skrupellosigkeit, charakterliche Voraussetzungen - oder ist alles nur dem Zufall geschuldet, den historischen Umständen?

Das ist seit jeher eine faszinierende Frage, mit der sich Politologen, Psychologen und Historiker beschäftigt haben. Man kann die Frage aber auch ganz anders stellen: Warum haben zwei der brutalsten Machthaber der Gegenwart, der Nordkoreaner Kim Jong-un und der Syrer Baschar al-Assad, keinen anderen Lebensweg eingeschlagen, obwohl beide an westlichen Lehranstalten unterrichtet wurden und schon in jungen Jahren erfahren konnten, was Freiheit, Menschenrechte und Demokratie bedeuten?

Vielleicht überschätzen wir ja den Wert und die Strahlkraft der westlichen Bildung, wenn wir solche Biografien betrachten, vermutet Johan Schloemann in seinem Essay "Der Diktator aus der letzten Reihe". Der Diktator aus der letzten Reihe, das ist der mit Atomwaffen drohende, sein Volk in Knechtschaft und Armut haltende Steinzeit-Kommunist Kim Jong-un.

Man geht davon aus, dass er einst unter einem Decknamen in Liebefeld bei Bern die Steinhölzli-Schule besuchte. Was er mitnahm aus der Schweiz, dem Land der direkten Demokratie? Leider nur eine Faszination für amerikanische Basketballspieler und eine Liebe zu den Bergen. Alle Hoffnungen, der junge Machthaber könnte sich von der Politik seines Vaters und seines Großvaters abwenden und eine Annäherung an den Westen wagen, wurden bitter enttäuscht. Ähnlich verhält es sich mit dem syrischen Tyrannen Baschar al-Assad, der als Augenarzt in London praktizierte und als möglicher Reformer galt. Später ließ er im syrischen Bürgerkrieg Fassbomben auf das eigene Volk werfen.

Auch Hitler und Goebbels hörten: "Alle Menschen werden Brüder"

Die früher oft geäußerte These, dass Diktatoren wie Hitler, Stalin oder Pol Pot eine grausame Kindheit gehabt haben müssen, mit Gewalterfahrungen, Traumata und schrecklichen Erziehern, weist Schloemann zurück. Den umgekehrten Schluss könne man aber auch nicht ziehen: "Wer in jungen Jahren in liebevoller Absicht über Demokratie und Respekt belehrt wurde, wer viele Bücher gelesen hat (wie der Autodidakt Hitler) oder die herrlichsten kapitalistischen Wahlfreiheiten genossen hat (wie offenbar Kim Jong-un), der ist noch lange nicht davor gefeit, als Gewaltherrscher zu agieren, wenn andere Kräfte stärker werden. Auch große Teile des gebildeten deutschen Bürgertums, die allerlei Segnungen der aufgeklärten europäischen Kultur erfahren hatten, haben bekanntlich bei Nationalsozialismus und Judenverfolgung mitgemacht."

Es sei schlicht naiv, davon auszugehen, dass eine Berührung mit westlichen Werten automatisch dazu führe, dass Politiker auch nach diesen Werten handeln: "Heute sehen wir, wie inmitten marktwirtschaftlichen Überflusses und demokratischer Bildungsanstrengungen trotzdem Ideologien überleben oder neu belebt werden können, die von nationaler Ehre und Reinheit künden. Donald Trump hat sich in der Elbphilharmonie vom "Alle Menschen werden Brüder" in Beethovens Neunter Symphonie ebenso wenig erweichen lassen wie einst Hitler und Goebbels, die sich dieselbe Musik im Konzert angehört haben. Und als Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sich neulich im Europaparlament von dem belgischen Youtube-Star Guy Verhofstadt eine fulminante Standpauke über die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte anhören musste, wenige Meter vom Redner entfernt - da hat ihn das auch nicht von seinem nationalistischen Kurs abgebracht.

Diktatoren wie Kim Jong-un und Baschar al-Assad lebten nun einmal in ihrer eigenen Scheinwelt, in einem selbstgewählten System aus Paranoia, Selbstüberschätzung, Personenkult und Verfolgungswahn. Letztlich werden sie, wenn es immer einsamer um sie wird, Opfer ihrer eigenen Propaganda, Gefangene ihres Unterdrückungsapparats, der ihre Existenz sichert, aber den Charakter zerstört. Bildung spielt in diesem System keine Rolle mehr.

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