Süddeutsche Zeitung

Frankreich: Proteste gegen Rentenreform:Solo Sarkozy - alle gegen einen

Lesezeit: 3 min

Dass Nicolas Sarkozy das Rentenalter auf 62 erhöhen will, bringt in Frankreich die Massen in Rage. Bei der Rentenreform könnte sich der skandalgebeutelte Präsident tatsächlich durchsetzen - und so eine Wende zum Positiven schaffen.

Stefan Ulrich, Paris

Eine, zwei, drei Millionen? Wie groß die Zahl der Franzosen ist, die am Dienstag gegen die Rentenpolitik Nicolas Sarkozys aufmarschierten, lässt sich nicht genau klären. Zum einen, weil die Menschen an so vielen Orten auf die Straße gingen, zum anderen, weil die Behörden die Zahlen kleinrechnen, während die Gewerkschaften sie aufzubauschen versuchen.

Eines aber ist augenfällig: Es waren sehr viele Franzosen, die da in den Städten protestierten, rote Fahnen schwenkten und ihre Wut gegen die Politik des Präsidenten hinausskandierten. Ihr Hauptangriffspunkt war die Absicht der Regierung, das Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre anzuheben. Das ist im internationalen Vergleich immer noch äußerst niedrig. Doch die Franzosen laufen dagegen Sturm, wie meistens, wenn sich etwas ändern soll in ihrem Staat. Was treibt sie um? Ist Frankreich noch zu reformieren? Und warum versteift sich Sarkozy auf die Zahl 62, wenn ihm solcher Widerstand entgegenschlägt?

Um die Protestfreudigkeit der Franzosen etwa im Gegensatz zu den Deutschen zu verstehen, muss man die unterschiedlichen Konfliktkulturen betrachten. Im föderativen Deutschland fallen Entscheidungen in der Regel erst, nachdem alle Seiten ausgiebig darüber diskutiert und einen Kompromiss gefunden haben. Das dauert lange, dafür sind die Ergebnisse haltbar. In der Präsidialrepublik Frankreich werden Beschlüsse rascher vom Élysée gefasst. Die Korrektur setzt danach ein, im Parlament und vor allem auf der Straße. Streiks und Demos wirken als Ventil, um den straffen französischen Zentralismus erträglich zu machen.

Auch die Geschichte spielt bei Protesttagen wie am Dienstag eine Rolle. Frankreich ist früher als andere Länder zum Staat und zur Nation geworden. Es entwickelte ein Avantgarde- und Sendungsbewusstsein. Erst sah sich das Land als "älteste Tochter der Kirche", als allerkatholischste Macht auf Erden, dann, nach Aufklärung und Revolution, als Wiege der Vernunft, der Menschenrechte und des Fortschritts.

Das Bewusstsein, ein einzigartiges Zivilisationsmodell geschaffen zu haben, gehört zum Savoir vivre wie Baguette und Bordeaux. Umso schwerer fällt es den Franzosen, Veränderungen hinzunehmen und sich etwa den Diktaten der Globalisierung zu unterwerfen.

"Was man drüben fürchtet, ist ein von außen kommender Zwang, die menschlichste aller Lebensformen zu ändern", schrieb vor Jahrzehnten der Publizist Friedrich Sieburg über Frankreich. Das gilt noch immer. Mögen andere Länder ihre Rentensysteme reformieren und den Staatshaushalt zusammenstreichen - viele Franzosen sehen darin noch keinen Grund, es genauso zu halten.

Für die Linken sind die Rente mit 60 und die 35-Stunden-Woche zwei rote Stempel, mit denen sie die Republik prägten. Entsprechend einig ist der Widerstand. Alle großen Gewerkschaften hatten für den Dienstag dazu aufgerufen, die meisten Führungspolitiker der Oppositionsparteien sind mitmarschiert, von den Sozialisten bis zu den Trotzkisten. "Das Renteneintrittsalter von 60 Jahren ist kein Dogma, sondern eine Frage der Gerechtigkeit", meint die Sozialistin Martine Aubry. Die erste Forderung an Sarkozy laute, an den 60 Jahren festzuhalten.

In Umfragen stellen sich zwei Drittel der Franzosen hinter die Demos vom Dienstag. Sie haben den Eindruck, ihre Gesellschaft werde immer ungerechter. Während die Normalbürger für weniger Geld mehr arbeiten müssten, würden die Reichen begünstigt. Trotz dieses Unmuts weiß eine Mehrheit der Bürger, wie dringend ihr Rentensystem reformiert werden muss, damit es nicht an einer stetig steigenden Lebenserwartung zugrunde geht. Eine Mehrheit glaubt zudem, dass sich Sarkozy bei der Rentenanhebung durchsetzen wird. Von einer "äußerst starken Resignation" spricht der Politologe Roland Cayrol. Den Menschen gehe es mit ihren Protesten vor allem darum, die Reform ein wenig hinauszuschieben und abzuschwächen.

Es mutet seltsam an: Während das Volk aufbegehrt und die Opposition eine Einheitsfront bildet, steckt Sarkozy im Umfragetief und muss mit Affären, Exzessen seiner Minister in der Sicherheitspolitik und Rivalitäten im eigenen Lager kämpfen; und dennoch könnte er sich in der Rentenfrage behaupten und daraus den Wendepunkt seiner Amtszeit machen. In den vergangenen Jahren ist sein Ruf als schneidiger Erneuerer verblasst. Nun bekommt er die Gelegenheit, sein Image aufzupolieren.

Wenn er gegen den Druck der Straße und der Opposition im Parlament Kurs hält, wird das den Franzosen Respekt abnötigen. Sarkozy kann so demonstrieren, ein Mann der Überzeugungen zu sein, der nicht auf Umfragen achtet, sondern auf das Wohl Frankreichs. Dies könnte ihm bei der Präsidentschaftswahl 2012 entscheidende Punkte bringen.

Auch deshalb hat der Präsident die Rentenfrage zur Mutter aller Reformen gemacht. Er verkündet: "Ich werde nicht der Präsident der Republik sein, der abtritt, ohne das Rentensystem ins Gleichgewicht gebracht zu haben. Ich bin aufs äußerste entschlossen." In den nächsten Wochen wird er den Gewerkschaften wohl kleinere Zugeständnisse machen. Im Kern will er hart bleiben. Aus seiner Umgebung heißt es, die Massenproteste kämen ihm sogar gelegen. So könne er umso mehr Profil zeigen. Ob eine, zwei oder drei Millionen - Sarkozy hält sich an die Devise: viel Feind, viel Ehr.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.997006
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.09.2010
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.