Süddeutsche Zeitung

Europa:"Kein Land darf über Nacht seine Grenzen schließen"

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Frankreichs Europaministerin Amélie de Montchalin spricht über Ärger in der Corona-Krise, die Gefahren des Brexits und den Mut von Angela Merkel.

Interview von Björn Finke, Brüssel

Sie ist erst 34 - und schon verantwortlich für Frankreichs Europapolitik: Amélie de Montchalin sitzt seit drei Jahren für die Partei von Präsident Emmanuel Macron im Parlament, vor einem Jahr wurde die Ökonomin zur Staatssekretärin für europäische Angelegenheiten und zur Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit ernannt. An diesem Freitag besucht sie Saarbrücken: um "Merci" zu sagen. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärt sie, wieso Regierungen nicht mehr so einfach Grenzen schließen sollten, warum Angela Merkel gemeinsamen EU-Schulden zugestimmt hat und wie sich ihr Land auf ein Scheitern der Brexit-Gespräche vorbereitet.

SZ: Madame la Secrétaire d'Etat, was machen Sie in Saarbrücken?

Amélie de Montchalin: Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans und ich besuchen das Klinikum Saarbrücken. Dort wurden sechs französische Corona-Patienten behandelt. Im Saarland insgesamt waren es mehr als 20. Ich will dafür danken, dass Sie das französische Volk in einer sehr schwierigen Situation unterstützt haben. Mehr als 140 Franzosen wurden in Krankenhäusern in ganz Deutschland aufgenommen, nicht nur an der Grenze, sondern auch in Berlin, Hamburg oder Schleswig-Holstein. Und nicht nur den Ärzten gilt der Dank, sondern viele andere halfen dabei, das zu ermöglichen, etwa beim Transport. Während der Krise tauschten sich nicht nur Paris und Berlin ständig aus, sondern auch die Regionen und Bundesländer arbeiteten eng zusammen, so eng wie nie zuvor. Deswegen begleitet mich der Präsident der französischen Grenzregion Grand Est.

Trotz der engen Zusammenarbeit schlossen die deutschen Bundesländer wegen der Pandemie die Grenzen, ohne das mit Paris abzustimmen. Sind Sie enttäuscht?

In Frankreich herrschten auch Ausgangsbeschränkungen. Wir forderten die Bürger auf, zu Hause zu bleiben, und schränkten ihre Bewegungsfreiheit ein. Die Idee war nicht, dass die Franzosen dann auf die andere Seite der Grenze fahren und dort ihr normales Leben fortsetzen. Natürlich war das für viele Bürger im Alltag eine erhebliche Belastung. Deswegen werde ich heute auch die französische Grenzregion besuchen. Wer an der Grenze lebt, war gleich zweimal vom Lockdown betroffen - einmal von den Folgen der Beschränkungen im Heimatland und dann noch von den Beschränkungen, die auf der anderen Seite der Grenze eingeführt wurden. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass wir gemeinsam und schnell pragmatische Lösungen gefunden haben, um sicherzustellen, dass Grenzpendler und Lastwagen weiter durchkommen und dass sich Familien weiter treffen können.

Also alles prima?

Die Entscheidungswege in Frankreich und Deutschland sind unterschiedlich; in Paris wird vieles zentral entschieden, in Deutschland ist das anders. Das war eine Herausforderung, und manche Situationen waren sicher sehr schwierig, aber wir haben versucht, rasch Lösungen zu finden. Wir sollten nicht vergessen, dass wir eine Ausnahmesituation erlebt haben. Hoffentlich passiert so eine Krise nie wieder, doch wir müssen nun aus unseren Erfahrungen lernen und schauen, was wir in Zukunft bei einer ähnlichen Krise anders machen würden.

Am 15. Juni sollen alle Grenzkontrollen aufgehoben werden. Das hat gedauert...

Wir alle schätzen die Freizügigkeit, die Abwesenheit von Grenzkontrollen. Manchmal nimmt man Sachen als gegeben hin, und erst wenn sie wegfallen, lernt man sie noch mal richtig schätzen. Deutschland und Frankreich planen nun, am 15. Juni sämtliche Kontrollen aufzuheben. Dann liegt alles hinter uns. Ich hoffe, es gibt keine bösen Überraschungen, und wir können den Termin einhalten.

Warum nicht früher?

Mit Blick auf die Krankheitslage ist es der frühestmögliche Termin. In Frankreich ist die östliche Grenzregion am stärksten von Corona betroffen, und wir müssen daher Sicherheit und Vertrauen schaffen. Bei einer schnelleren Öffnung könnten manche Menschen fürchten, dass dies ein Risiko für ihre Gesundheit darstellt.

Sollten die Regierungen nach den Erfahrungen der Krise die Regeln für den Schengen-Raum ändern? Die Schengener Abkommen haben Grenzkontrollen abgeschafft, Corona hat sie wieder eingeführt.

Wir brauchen mehr Abstimmung zwischen Schengen-Staaten, bevor diese ihre Grenzen schließen. Wir brauchen ein Frühwarnsystem, das sicherstellt, dass kein Staat Grenzen schließt, ohne seinen Partnern genug Zeit zu geben, sich vorzubereiten oder die Entscheidung vielleicht noch einmal zu diskutieren. Kein Land darf über Nacht seine Grenzen schließen. Das müssen wir wirklich besser organisieren.

Das Virus macht nicht vor Grenzen halt. Müssen die Regierungen Kompetenzen im Gesundheitsschutz an die EU-Kommission abgeben?

Am Anfang der Pandemie trafen Regierungen schnell Entscheidungen, die vor allem das eigene Land im Blick hatten. Frankreich drängte dann ebenso schnell darauf, sich auf EU-Ebene besser zu koordinieren. Das war wichtig, denn ohne Koordinierung sind nationale Maßnahmen gegen ein Virus wenig wirksam. Das haben dann ebenfalls sehr schnell alle anderen Regierungen verstanden. Bei der Frage nach neuen Kompetenzen für die EU müssen wir immer sehr pragmatisch sein: Wo bringt gemeinsames Vorgehen Nutzen, wo nicht? Die EU sollte nichts machen, nur weil es gut aussieht oder symbolisch wichtig ist, wenn es keinen Zusatznutzen stiftet. Brüssel wird nie für die Krankenhäuser in den EU-Staaten verantwortlich sein. Das wäre sinnlos. Aber es gibt Bereiche, wo gemeinsames Vorgehen der Staaten etwas bringt.

Zum Beispiel?

Die EU braucht ein besseres Frühwarnsystem für solche Krankheiten. Gibt es an einem Ort ein Problem, kann bald die ganze EU ein Problem haben. Ein anderes Beispiel ist die gemeinsame Beschaffung von Medizinprodukten. Während der Pandemie haben die Staaten zusammen mit der EU-Kommission große Mengen dieser Produkte gemeinsam eingekauft. Ein Block mit 450 Millionen Einwohnern hat mehr Verhandlungsmacht als 27 einzelne Staaten.

Mitte Mai veröffentlichten Ihr Präsident und Kanzlerin Angela Merkel einen Vorschlag für ein Corona-Hilfspaket der EU. Demnach soll die Kommission Schulden machen und das Geld als Zuschuss an klamme Staaten zahlen: eine umstrittene Idee, die Merkel selbst lange abgelehnt hat. Der Entwurf der Kommission orientiert sich nun daran; die viel beschworene Achse Paris-Berlin funktioniert also wieder. Wie hat Macron Merkel überzeugt mitzumachen?

Kanzlerin Merkel hat während der Krise oft gesagt, dass Deutschland nur stark ist, wenn auch Europa stark ist. Und genau das hat jedes Land für sich gefühlt: Es gibt auch kein starkes Frankreich in einem schwachen Europa. Deutschland und Frankreich sind mit diesem Vorschlag der Verantwortung gerecht geworden, die sie als größte Wirtschaftsnationen der EU haben. Und die Verantwortung liegt nicht nur darin, Ideen in die Debatte einzuspeisen, sondern auch darin, Brückenbauer zu sein und einen Kompromiss zwischen den 27 Mitgliedstaaten zu vereinfachen.

Auf welche Weise haben die beiden eine Lösung vereinfacht?

Merkel und Macron haben viel Mut bewiesen, und dieser Mut ermöglicht nun vielen anderen Staats- und Regierungschefs, ihre eigenen Zweifel und nationalen Widerstände zu überwinden. Der Vorschlag war auch nicht der kleinste gemeinsame Nenner oder irgendeine Mittelposition: Es war ein Schlüsselmoment. Zugleich haben Merkel und Macron den anderen Regierungen klargemacht, dass es dringend ist. Wir können uns nicht den Luxus erlauben, Zeit zu verschwenden oder theoretische Debatten zu führen. Der Hilfsfonds muss vor Ende dieses Jahres bereit sein, nicht in zwei Jahren.

Dieses gemeinsame Positionspapier vom Mai beschäftigt sich nicht nur mit dem Corona-Hilfspaket, sondern auch mit der weiteren Entwicklung der EU...

Ja, es geht nicht nur ums Geld. Es ist eine wahre gemeinsame Vision, wie Europa Solidarität zeigen und mehr Souveränität gewinnen kann. Präsident Macron wirbt schon seit längerem für mehr Souveränität, damit Europa glaubhaft auf globaler Bühne auftreten kann. Die USA und China sind auf Konfrontationskurs, und nun geht es darum, wie Europa in dieser komplizierten und konfliktträchtigen Welt seinen eigenen Weg finden kann. Wir dürfen nicht andere Mächte für uns entscheiden lassen, wir dürfen nicht bloßes Objekt sein.

Freitagmittag berichtet EU-Chefunterhändler Michel Barnier über die jüngste Verhandlungsrunde mit Großbritannien. Es geht nicht voran, und London hat nur noch gut drei Wochen, um eine Verlängerung der Brexit-Übergangsphase zu beantragen. Läuft diese im Dezember ohne Abschluss eines Handelsvertrags aus, werden Zölle und Zollkontrollen eingeführt. Sie sind in Calais aufgewachsen, am Ärmelkanal. Sind Sie beunruhigt? Sollte die EU den Briten entgegenkommen?

In dem Verhandlungsmandat, das die EU Michel Barnier gegeben hat, stehen keine unrealistischen Forderungen an Großbritannien. Es geht nicht um eine Reise zum Mond. Es geht nicht ums Gewinnen oder Verlieren. Wir wollen nur die Grundlagen schaffen für eine faire und lang andauernde Partnerschaft. Der Zeitplan für die Verhandlungen war ohnehin in vielerlei Hinsicht unrealistisch. Und jetzt ist die Gefahr groß, dass unsere Firmen und die in Großbritannien nach dem Schlag durch die Pandemie noch einen zweiten Treffer einstecken müssen, wenn die Verhandlungen scheitern und sich daher im Januar die Regeln für den Handel und den Güterverkehr komplett ändern.

Wie kann das abgewendet werden?

Wir müssen gut verhandeln, um das zu verhindern. Zugleich ist völlig klar, dass wir nicht irgendwas unterschreiben können, nur damit es am Ende einen Vertrag gibt. Dieser Vertrag wird über Jahrzehnte Folgen haben, und wir dürfen nicht unsere Unternehmen und Beschäftigten dem Risiko unfairer Konkurrenz aus Großbritannien aussetzen. Auch dürfen wir nicht ganze Berufsgruppen wie die Fischer für ein schnelles Abkommen opfern. Diese Ansicht teilen alle Mitgliedstaaten. Wir müssen uns daher vorsorglich auf ein Scheitern der Gespräche vorbereiten. Zum Beispiel hat Frankreich schon Vorkehrungen getroffen, damit durch den Eurotunnel weiter Züge fahren können, auch wenn es kein Abkommen zwischen den Briten und der EU gibt.

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