Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Wahlkampf mit Zahlen

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SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warnt vor einer neuen großen Flüchtlingskrise und hält die Lage für "hochbrisant". Doch viele Fakten sind anders als vor zwei Jahren.

Von Markus C. Schulte von Drach, München

"2015 kamen über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland - weitgehend unkontrolliert." SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat am Wochenende vor einer neuen großen Flüchtlingskrise gewarnt. Die Situation in Italien mit Tausenden über das Mittelmeer ankommenden Migranten sei "hochbrisant". Der Bild am Sonntag sagte er: "Wenn wir jetzt nicht handeln, droht sich die Situation zu wiederholen." Deshalb fordert Schulz Unterstützung für Italien. Und Schulz möchte die Migranten auf die EU-Länder verteilen. Außerdem fordert er eine europäische Strategie, um die Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen. Sein Fazit für den beginnenden Wahlkampf: "Wer auf Zeit spielt und versucht, das Thema bis zur Bundestagswahl zu ignorieren, verhält sich zynisch." Die politischen Reaktionen auf Schulz' Darlegungen sind vielstimmig (siehe Text unten) - doch lässt sich die Situation vom Sommer 2015 wirklich mit der heutigen Lage vergleichen? Ein Faktencheck:

Wie viele Flüchtlinge kamen 2015?

Dem Innenministerium zufolge wurden im Jahr 2015 etwa 890 000 Flüchtlinge in Deutschland registriert. Vorübergehend war man von 1,1 Millionen ausgegangen, allerdings waren etliche Flüchtlinge mehrfach registriert worden. Wenn Martin Schulz von "Über einer Million Flüchtlinge" spricht, ist das also nicht korrekt. Außergewöhnlich viele Migranten waren es trotzdem. 2016 wurden in Deutschland dann noch etwa 280 000 Flüchtlinge registriert, im ersten Halbjahr 2017 etwa 90 400. Auch die Zahl der Asylanträge ist deutlich gesunken, meldet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Was war so besonders an der Situation im Jahr 2015?

Die Situation war 2015 außergewöhnlich, weil besonders viele Syrer nach Europa wollten und sich von der Türkei aus auf den Weg nach Griechenland und weiter über die Balkanroute Richtung Mitteleuropa machten. Von den etwas mehr als einer Million Flüchtlingen, die insgesamt über das Mittelmehr nach Europa kamen, nahmen mehr als 850 000 diese "östliche Mittelmeerroute". 2016 wählten dann noch einmal etwa 173 000 Menschen diesen Weg - bis er im Rahmen des Türkei-EU-Deals im März weitgehend dichtgemacht wurde. Seitdem erreichen kaum noch Syrer und andere Flüchtlinge, die sich in der Türkei aufhalten, Europa über das Mittelmeer.

Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Zahl der syrischen Asylbewerber in der EU wider. Von Juni 2015 bis September 2016 stieg die Zahl ihrer Asylanträge dem Flüchtlingshochkommissariat der UN (UNHCR) zufolge von 300 000 auf 900 000. Danach kamen nur noch etwa 52 500 neue Asylanträge hinzu.

Welche Routen über das Mittelmeer gibt es derzeit?

Anders als der Weg über Griechenland und den Balkan ist die "zentrale Mittelmeerroute" von Nordafrika, insbesondere von Libyen aus in die EU nach wie vor offen. Die Flüchtlinge erreichen auf diesem Weg vor allem Italien. 2015 kamen etwa 150 000 Migranten von Nordafrika nach Italien, 2016 schafften es dem UNHCR zufolge etwa 181 000 Flüchtlinge dorthin. 2017 waren es bis jetzt bereits mehr als 93 300. Die meisten dieser Asylsuchenden sind Nigerianer, Flüchtlinge aus Guinea, von der Elfenbeinküste, aus Gambia und Eritrea. Nach Angaben von Pro Asyl sind seit Jahresanfang auf dieser Route mehr als 2300 Menschen ertrunken. Die italienische Regierung geht davon aus, dass dieses Jahr insgesamt mehr als 200 000 Flüchtlinge das Land erreichen.

Für die EU-Staaten - mit Ausnahme von Italien - hat der Druck durch die Flüchtlinge im Vergleich zu 2015 und 2016 also deutlich nachgelassen. Selbst nach Griechenland haben es 2017 bislang "nur" etwa 10 250 Asylsuchende über das Mittelmeer geschafft. Der Türkei-EU-Deal erfüllt demnach seinen Zweck, syrische und andere Flüchtlinge in der Türkei von der Weiterreise abzuhalten. Dem UNHCR zufolge haben fast 2,8 Millionen Syrer hier Zuflucht gesucht.

Wo ist die Lage vergleichbar dramatisch wie 2015?

Die Situation in Italien zeigt allenfalls einige Parallelen zu der in Griechenland 2015: Ein EU-Mitglied wird mit den Flüchtlingen mehr oder weniger alleingelassen, obwohl es heillos überfordert damit ist, die Asylsuchenden aufzunehmen und zu versorgen. An manchen Tagen erreichen mehrere Tausend Flüchtlinge italienische Häfen.

Italien hat also ein Interesse daran, viele der Flüchtlinge in andere EU-Länder weiterreisen zu lassen. Österreich aber droht deshalb bereits damit, wieder Grenzkontrollen am Brenner einzuführen, um das zu verhindern. Auch in Österreich hat der Wahlkampf begonnen, am 15. Oktober wird gewählt. Wird Deutschland dann wieder seine Grenzen öffnen? Das will auch Martin Schulz nicht.

Wie könnte Italien geholfen werden?

Martin Schulz möchte vielmehr, dass Italien endlich die Hilfe erhält, um die das Land die anderen EU-Mitglieder schon lange bittet. Um zu betonen, wie dringend es inzwischen ist, hat Rom sogar schon gedroht, Schiffe mit Flüchtlingen nicht mehr in italienische Häfen einfahren zu lassen. Beim Treffen der EU-Außenminister jüngst in Brüssel blockierte Rom die Erweiterung des Mandats für die Operation "Sophia", in deren Rahmen Kriegsschiffe der EU-Mitglieder die Schleuserkriminalität vor Libyen bekämpfen sollen. Die Schiffe nehmen immer wieder in Seenot geratene Flüchtlinge auf und bringen sie nach Italien. Die übrigen EU-Staaten tun sich jedoch schwer, sich auf die Unterstützung Italiens zu einigen. Schon die längst geplante Verteilung von Flüchtlingskontingenten auf verschiedene Länder scheitert an der Blockade einiger Regierungen. Martin Schulz fordert deshalb, Italien deutlich stärker zu unterstützen und endlich Flüchtlinge von dort aufzunehmen. Die Bereitschaft dazu möchte er mit Geld erhöhen, das die Länder dafür von der EU-Kommission erhalten sollen.

Wie schlimm ist die Lage also wirklich?

Eine Flüchtlingskrise wie 2015 steht derzeit nicht bevor - schon gar nicht in Deutschland. Es sind insbesondere aufgrund des Türkei-EU-Deals viel weniger Menschen mit dem Ziel Europa unterwegs als vor zwei Jahren. Und derzeit sieht es so aus, als würde der Deal halten.

Aber über die "zentrale Mittelmeerroute" kommen weiterhin Tausende Flüchtlinge vor allem nach Italien, das sich von den übrigen EU-Staaten weitgehend im Stich gelassen fühlt. Anders als Schulz sieht aber etwa der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber derzeit keine drohende Flüchtlingskrise. Wenn man die Zahlen anschaue und mit denen von 2015 vergleiche, seien die 100 000 Flüchtlinge, die zur Zeit in Italien seien, noch beherrschbar, sagte er im Bayerischen Rundfunk.

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Quelle:
SZ vom 25.07.2017
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