Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Bundesärztekammer lehnt systematische Alterstests für Asylbewerber ab

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Von Kristiana Ludwig, Berlin

In der vergangenen Woche stach ein afghanischer junger Mann in einem Drogeriemarkt in Kandel auf ein 15 Jahre altes Mädchen ein. Im Krankenhaus erlag es seinen Verletzungen, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Zwei Tage später zitierte die Bild den Vater des Mädchens: "Er ist nie und nimmer erst 15 Jahre alt", habe er gesagt. "Wir hoffen, dass wir durch das Verfahren jetzt sein wahres Alter erfahren."

Die Tat von Kandel hat eine Debatte über die Altersfeststellung bei Asylbewerbern ausgelöst. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte eine "strikte Regelung für eine medizinische Altersüberprüfung von allen ankommenden Flüchtlingen, die nicht klar als Kinder zu erkennen sind". Dafür werde sich die CSU in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD einsetzen. "Noch immer täuschen zu viele Flüchtlinge ein jugendliches Alter vor", sagte er der Funke-Mediengruppe.

Auch der CDU-Vizevorsitzende Thomas Strobl sprach sich in der Welt am Sonntag dafür aus, das Alter von Asylbewerbern konsequent von Ärzten überprüfen zu lassen: "Im Zweifelsfall gehören dazu auch medizinische Untersuchungen wie das Röntgen der Handwurzel." Die AfD stellte klar, sie fordere genau solche Tests "seit rund zwei Jahren", und auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mischte sich per Twitter ein: Die Röntgen-Methoden, schrieb er, seien "genau genug", um die Volljährigkeit von Flüchtlingen zu bestimmen.

Montgomery lehnt einen obligatorischen Alterstest grundsätzlich ab

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, sieht das jedoch ganz anders: "Die Untersuchungen sind aufwendig, teuer und mit großen Unsicherheiten belastet", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Dabei könnten weder medizinische noch psychologische Verfahren den Geburtstag juristisch sicher bestimmen. Montgomery lehnt einen obligatorischen Alterstest grundsätzlich ab. "Wenn man das bei jedem Flüchtling täte, wäre das ein Eingriff in das Menschenwohl", sagte er: "Röntgen ohne medizinische Indikation ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit." Nach den Regeln des Strahlenschutzes sei es nur im Rahmen eines Strafprozesses zulässig, das Alter medizinisch zu überprüfen. In Kandel, zum Beispiel, könnte der Afghane nun zu Recht untersucht werden - schließlich stehe er unter Verdacht.

Zuletzt hatte die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer Ende 2016 angezweifelt, dass ärztliche Altersfeststellungen wirklich zuverlässig und verfassungsgemäß sind. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder kritische Ärztetagsbeschlüsse, erstmals im Jahr 1995.

Dennoch schicken die Bundesländer Hamburg und Berlin seit einigen Jahren immer wieder Asylbewerber zu Ärzten ihrer jeweiligen Universitätskliniken, um ihr Alter untersuchen zu lassen. Die Mediziner dort röntgen nicht nur die Hände der geflüchteten Männer und Frauen, sondern auch ihre Brust, vermessen Gewicht, Größe, Zähne, Achselhöhlen und Geschlechtsteile. Bei Frauen erfolge "eine Inspektion des Entwicklungszustandes der Brustdrüsen", geht aus einer Antwort des Hamburger Senats auf eine FDP-Anfrage hervor. Für jedes Altersgutachten bezahlt die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie etwa 1500 Euro.

Auch für das Strafrecht hat die Volljährigkeit Relevanz

Die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften und Fachverbände haben in einer gemeinsamen Stellungnahme insbesondere die Genitaluntersuchungen kritisiert. Die Methode sei "stark umstritten", deshalb sei das Überschreiten von Schamgrenzen "medizinisch nicht zu rechtfertigen". Die Psychiater erklären, dass der menschliche Körper "durch das Erleben von sexuellem Missbrauch oder durch übermäßige Belastungen im Rahmen der Flucht" schneller altere. Dies würde eine biologische Altersfeststellung unmöglich machen.

Für die Bundesländer ist es wichtig, das korrekte Alter von anerkannten Flüchtlingen zu kennen, weil unbegleitete Minderjährige in Deutschland andere Rechte haben als Erwachsene. Sie müssen in einer kindgerechten Einrichtung untergebracht werden, dort organisieren Jugendämter ihre Betreuung und Versorgung; Minderjährige müssen zur Schule gehen. Und ihre Familien haben besondere Reiserechte innerhalb Europas. Auch für das Strafrecht hat die Volljährigkeit Relevanz.

Österreich hat vor acht Jahren bereits eine gesetzliche Altersbegutachtung eingeführt. Dort müssen Flüchtlinge zum Arzt, wenn Behörden Zweifel an ihrer Aussage haben, "insbesondere Röntgenuntersuchungen" stehen im Gesetz. Dem Flüchtlingshelfernetzwerk Asylkoordination Österreich zufolge haben 2015 insgesamt 9331 Asylbewerber im Nachbarland angeben, minderjährig zu sein. 951 von ihnen hätten die Behörden nach einer Altersbegutachtung für volljährig erklärt.

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SZ vom 02.01.2018
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