Süddeutsche Zeitung

EU:Sondergipfel wird verschoben

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Die Regierungschefs der EU-Länder wollen ihr Verhältnis zur Türkei klären. Doch Corona durchkreuzt den Zeitplan.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Uhr war fast abgelaufen, Entscheidungen über das Verhältnis der EU zur Türkei standen direkt bevor. "Wir sollten uns die Zeit für eine gründliche Vorbereitung geben", hatte EU-Ratspräsident Charles Michel Mitte August an die Staats- und Regierungschefs geschrieben, als er zu einem Sondergipfel einlud, um die Lage im östlichen Mittelmeer zu diskutieren. Am Donnerstag wollten die Spitzenpolitiker in Brüssel eintreffen, doch daraus wurde nichts: Wegen einer Corona-Infektion bei einem von Michels Sicherheitsleuten wird das Treffen um eine Woche verschoben, auf den 1. und 2. Oktober. Sein Sprecher teilte auf Twitter mit: "Der Ratspräsident hat sich regelmäßig testen lassen und wurde erst gestern negativ getestet. Entsprechend den belgischen Regeln hat er sich heute in Quarantäne begeben." Bei dem Sondergipfel sollen kontroverse außenpolitische Fragen behandelt werden, nämlich die künftigen Beziehungen der EU zu China und eben zur Türkei. Nicht nur EU-Chefdiplomat Josep Borrell sprach vorab von einem "historischen Scheideweg", an dem sich beide Seiten befinden.

Vor Bekanntgabe der Verschiebung hatte Michel am Dienstag zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel per Videokonferenz mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gesprochen. Die Botschaft der beiden dürfte unverändert sein: Die Provokationen waren inakzeptabel, Ankara muss auf einseitige Schritte verzichten, um die wegen der Erdgasbohrungen angedrohten Sanktionen abzuwenden. Als Befürworter gelten neben Frankreich und Österreich Griechenland und Zypern. Michel war gerade in Athen und Nikosia, um Kompromisse auszuloten. Es folgten noch mehr Telefonate: Wieder sprach der Belgier mit Erdoğan, aber auch mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und anderen EU-Regierungschefs. Zudem wirbt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dafür, dass Experten der Nato-Mitglieder Griechenland und Türkei Pläne entwickeln, um militärische Zwischenfälle zu verhindern.

Die türkische Deeskalation gegenüber Athen ist ein Erfolg der geduldigen Diplomaten Merkel und Michel. Doch der Gipfel kann weiter scheitern, denn alles ist mit allem verknüpft. Dass nun eine türkische Reederei wegen des Verstoßes gegen das Waffenembargo gegen Libyen mit Sanktionen belegt wurde, geißelt Ankara als "wertlos". Seit Tagen ruft Erdoğans Sprecher, dass Sanktionen gegen sein Land "nicht funktionieren" würden und die EU nicht "maximalistische Positionen" mancher Mitglieder übernehmen solle.

Und in Richtung Zypern macht Erdoğan keine Zugeständnisse, weshalb der Inselstaat auf Sanktionen beharrt und am Montag Strafen gegen Belarus verhindert hat. Wie sehr dies der Glaubwürdigkeit der EU-Außenpolitik schadet, wissen alle in Brüssel - und auch Anfang Oktober dürften die Gespräche schwierig und langwierig werden. Für eine einheitliche Linie braucht es ein "Ja" aus Zypern, das Griechenland nicht hängen lassen kann. Nicht nur in Berlin fürchtet man, dass Sanktionen die mühsam erzielten Fortschritte zunichte machen und sich das Nato-Land Türkei noch mehr vom Westen entfernt. Hilfreich könnte die Idee einer internationalen Konferenz fürs östliche Mittelmeer sein, mit der Michel die Debatte versachlichen will. Auch die Türkei hat Wünsche: Neben einer einfacheren Vergabe von Visa und der Reform des Flüchtlingsdeals soll die Zollunion erweitert werden. Wegen der Anbindung an den EU-Markt, so türkische Diplomaten, seien die Industrieprodukte heute besser. Stolz wird betont, dass die EU-Kommission nach Ausbruch von Corona eine Taskforce einrichtete, damit Einzelteile geliefert werden können.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2020
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