Süddeutsche Zeitung

EU:"Prüfstein für den Zusammenhalt Europas"

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Kanzlerin Merkel verweist vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs auf gemeinsame Werte und Interessen der Mitgliedsländer, auch in der Flüchtlingsfrage.

Von Daniel Brössler, Berlin

Vor dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dazu aufgerufen, sich "gegen die Tendenzen zu Renationalisierung und Protektionismus" zu stemmen. "Das ist für mich die Stunde Europas", sagte sie. "In dieser zum Teil aggressiven Welt" könne ein EU-Mitgliedsland alleine wenig ausrichten. Merkel verwies auf gemeinsame Interessen und Werte, äußerte sich aber auch besorgt wegen des Konflikts um die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten, den sie als "Prüfstein für den Zusammenhalt Europas" bezeichnete. Merkel sprach von "schrecklichen Bildern" von der griechischen Insel Lesbos, wo nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria Tausende Menschen obdachlos geworden waren.

Es sei richtig gewesen, dass Deutschland "hier gehandelt hat und humanitär geholfen hat", sagte Merkel. Am Vormittag landeten die ersten 51 von bis zu 150 minderjährigen Migranten aus Moria, die Deutschland aufnehmen möchte, in Hannover. Deutschland will außerdem 1553 Flüchtlinge von fünf griechischen Inseln aufnehmen. Man wisse, dass dies keine "nachhaltige Lösung" sei, betonte Merkel. "Wenn wir auf Dauer in der Frage der Migration keine gemeinsame Grundlage zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union finden, ist das eine schwere Bürde für die Handlungsfähigkeit Europas", warnte die Kanzlerin. Der EU-Kommission sei sie dankbar für ihren Reformvorschlag. Das komplizierte Problem werde Europa noch "für die gesamten nächsten Jahrzehnte" beschäftigen. Die EU-Kommission hatte in der vergangenen Woche einen Vorschlag vorgelegt, der Länder wie Italien und Griechenland vor allem bei der Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht entlasten soll. Länder, die keine Migranten aufnehmen wollen, sollen unter anderem die Rückführung abgelehnter Asylbewerber sichern.

Ungeachtet bestehender Meinungsverschiedenheiten seien die Staaten der EU durch ein "gemeinsames Wertefundament" und gemeinsame Interessen verbunden, betonte Merkel. Als Beispiel nannte sie China, eines der zentralen Themen des EU-Gipfels. "Wir wollen einen fairen Handel mit China", sagte die Bundeskanzlerin. Sie hoffe auf einen Durchbruch in den seit 2013 laufenden Verhandlungen über ein Investitionsabkommen bis Ende des Jahres, könne das aber "noch nicht versprechen". Zur Politik gegenüber China gehöre, Meinungsverschiedenheiten offen anzusprechen. Man sei "zutiefst besorgt über die Entwicklung in Hongkong, wo das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" immer mehr ausgehöhlt werde. Das werde man ebenso weiter zur Sprache bringen wie "grausame und schlechte Behandlung" von Minderheiten. Erfreulich sei, dass China zum Pariser Klimaschutzabkommen stehe und CO2-Neutralität bis 2060 anstrebe.

Merkel kündigte auch eine europäische Antwort auf die Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny an, stellte aber klar, dass vor der Verhängung von Sanktionen Untersuchungen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) abgewartet werden sollen. Erst dann werde man "im europäischen Kreis über notwendige Reaktionen diskutieren". Der "versuchte Mordanschlag" auf Nawalny sei "verstörend" und erfordere eine gemeinsame europäische Reaktion, sagte auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Europa dürfe nicht zum "Spielball ideologischer Machtkämpfe" werden. Das gelte auch für den "hegemonialen Kampf zwischen den USA und der Volksrepublik China". Für die SPD gelte: "An militärischen Eindämmungsstrategien werden wir uns nicht beteiligen." Die USA und China trügen "derzeit gemeinsam zur Eskalation bei".

Merkel verurteilte auch die Gewalt gegen Oppositionellen in Belarus und kündigte für die kommende Woche ein Treffen mit der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja an. "Wenn man den Mut der Frauen sieht, der dort auf den Straßen gezeigt wird, für ein freiheitliches, von Korruption freies Leben, dann kann ich nur sagen: Ich bewundere das", sagte Merkel.

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SZ vom 01.10.2020
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