Süddeutsche Zeitung

EU-Parlament:Schadenersatz für alle

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Verbraucher aus mehreren EU-Ländern dürfen gemeinsam gegen Unternehmen klagen, etwa gegen Autokonzerne oder Fluggesellschaften. Kritiker befürchten eine Klageindustrie wie in den USA. Ein Passus soll das verhindern.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel

Die Berührungspunkte zwischen Zivilprozessrecht und Infektionskrankheiten sind gering, und doch hat die Corona-Pandemie zuletzt sogar die Verhandlungen über eine neue, europäische Sammelklage gefährdet. Bis zum späten Montagabend stritten Verhandler aus EU-Parlament und Mitgliedstaaten über die Frage, ob das Instrument auch bei der Verletzung von Passagierrechten greifen soll; ausgerechnet jetzt, wo Fluggesellschaften sowieso schon unter den Folgen der Pandemie zu leiden haben.

Am Ende aber setzten sich die Verhandler des Parlaments mit ihrer Forderung durch, und die Mitgliedstaaten stimmten zu. Ein "historischer Deal" sei da geglückt, freute sich der Dachverband der europäischen Verbraucherzentralen. "Endlich können Verbraucher gemeinsam vor Gericht gehen, wenn ihre Rechte vom selben Händler geschädigt werden", sagt die Vorsitzende Monique Goyens in einer Mitteilung. Firmen wie VW hätten sich lange darauf verlassen, dass ihre Kunden schon nicht alle vor Gericht gehen werden, um in Fällen wie dem Dieselskandal ihre Rechte einzuklagen. "Das zeigt, wie dringend nötig dieses Gesetz war."

Künftig können Verbraucherverbände in einem einzigen Verfahren im Namen von Geschädigten aus mehreren EU-Ländern auf Unterlassung und Schadenersatz klagen, und zwar nicht nur bei Abgasbetrug oder wenn Airlines systematisch Flüge streichen; sondern etwa auch bei massenhaften Datenschutzverstößen, Betrug bei Finanzdienstleistungen oder Gesundheitsfragen. Der einzelne Geschädigte macht automatisch mit bei der Klage - es sei denn, er will das nicht. Dazu soll in jedem EU-Land mindestens ein Verband benannt werden, der solche Klagen vorbringen kann.

Bei Klagen gegen große Konzerne trägt der Einzelne nicht mehr das gesamte Risiko

Auch in einem weiteren Punkt geht die nun gefundene Einigung über die bisherigen Möglichkeiten für Verbraucher deutlich hinaus: Mit der EU-Sammelklage können Verbraucherverbände Rechtsverstöße nicht nur feststellen und unterbinden lassen, sondern gleich auch den entsprechenden Schadenersatz einfordern. Das ist zum Beispiel bei der deutschen Musterfeststellungsklage anders geregelt; dort stellt das Gericht erst einmal nur fest, dass überhaupt eine Rechtsverletzung vorliegt - die Durchsetzung entsprechender Ersatzansprüche obliegt dann dem einzelnen Verbraucher. Die neuen Regeln erlauben Klagen gegen große Konzerne, bei denen das Risiko eben nicht mehr beim einzelnen Geschädigten liegt, frei nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark.

Die Frage der Verteilung des finanziellen Risikos war lange umstritten gewesen: Auch die Bundesregierung fürchtete, dass die neue EU-Sammelklage eine Klageindustrie wie in den USA befördern könnte; und hatte sich bei der Abstimmung im Rat der Mitgliedstaaten unter anderem deswegen enthalten. Den nun gefundenen Kompromiss begrüße man aber, teilte ein Sprecher des Justizministeriums mit. Der Einigung von Montagabend zufolge sollen Unternehmen vor Missbrauch geschützt werden, indem der Verlierer für die Prozesskosten aufkommt, wie das Parlament mitteilte. Außerdem können Gerichte und Behörden zum frühestmöglichen Zeitpunkt entscheiden, eine unbegründete Klage fallenzulassen.

Auch die Parteien im Europaparlament zeigten sich ganz überwiegend zufrieden mit der Einigung vom Montagabend. Kritik kommt dagegen aus der Fraktion der Christdemokraten. Andreas Schwab (CDU) sagt, er hätte sich noch mehr Schutz vor einer Klageindustrie nach amerikanischem Vorbild gewünscht; die Einigung ermögliche "Klagen, die die Verbraucherinteressen im Einzelfall nicht mehr an vorderster Stelle sehen, und auch den Arbeitnehmern in den betroffenen Unternehmen schaden können". Außerdem eröffne die geplante Richtlinie den Mitgliedstaaten Spielräume, es drohe ein "Flickenteppich": "Ein einheitlicher Binnenmarkt sieht anders aus."

Damit die Sammelklage Gesetz wird, müssen EU-Länder und Parlament die Einigung noch bestätigen. Danach haben die Staaten zur Umsetzung zwei Jahre Zeit.

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SZ vom 24.06.2020
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