Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Dumme Sprüche über Koffer voll Geld

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In den Korruptionsskandal im EU-Parlament sind bisher nur Sozialdemokraten verwickelt. Sie bringen aber das ganze Haus in Misskredit. Warum wird ihre Fraktion nicht stärker attackiert?

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Es gibt zwei Arten, wie man auf den Korruptionsskandal schauen kann, der derzeit das Parlament der Europäischen Union heimsucht. Von oben. Und von unten.

Von oben befasst sich Roberta Metsola mit dem Desaster. Die 43 Jahre alte Malteserin ist die Präsidentin des EU-Parlaments, über ihr steht niemand in der Hierarchie des Hauses. Das Amt bringt zudem ein Büro im neunten Stock eines Hauses in Brüssel mit sich, von dem aus man einen wunderbaren Blick über Europas Hauptstadt hat.

Im Moment jedoch sieht Metsola vor allem Probleme. "Ich habe nicht viel geschlafen im vergangenen Monat, seit der Skandal explodiert ist", sagt sie. "Das ganze Vertrauen, das wir in 20 Jahren Arbeit aufgebaut haben, wurde in ein paar Tagen zerstört."

Von unten schaut Moritz Körner auf den Skandal, der in Brüssel als "Katargate" bekannt geworden ist - eine Mischung aus dem Namen des arabischen Landes, aus dem besonders viel Geld an EU-Abgeordnete geflossen sein soll, und jenes Washingtoner Gebäudekomplexes, in dem einst der Watergate-Skandal seinen Ausgang nahm.

"Aber ihr habt doch auch..."

Körner ist 32 und sitzt für die FDP im Europaparlament. Er ist ein normaler EU-Abgeordneter, einer von 705, die in Brüssel und Straßburg Politik machen. Er hat kein Geld aus Katar bekommen. Trotzdem müsse er sich jetzt dumme Sprüche anhören, erzählt er. "Die Leute rufen an und fragen: Na, bringste auch gerade die Geldkoffer weg? Und wenn ich was zum Thema Korruption bei Facebook poste, kommen sofort die Kommentare: Aber ihr habt doch auch..." Fair findet Körner das nicht.

Gut einen Monat ist es jetzt her, dass die belgische Polizei damit begonnen hat, den Korruptionsskandal im EU-Parlament aufzurollen. Mehrere Menschen wurden verhaftet, unter ihnen eine Vizepräsidentin des Parlaments, die Griechin Eva Kaili, und ein ehemaliger Europaparlamentarier.

Zudem wird gegen mindestens zwei amtierende EU-Abgeordnete ermittelt, deren Immunität das Parlament voraussichtlich in den nächsten Wochen aufheben wird, sowie gegen ein halbes Dutzend Parlamentsmitarbeiter. Die Details sind abenteuerlich - es geht um Koffer voller Bargeld, um Millionen von Euro aus Katar und Marokko, die mutmaßlich an Parlamentarier verteilt wurden, um Einfluss auf deren Arbeit zu nehmen.

Geben und nehmen

Die Verdächtigen verbindet allerdings nicht nur, dass sie alle mit dem EU-Parlament zu tun hatten. Eine andere Klammer ist, dass die Abgeordneten, die bisher in den Skandal verwickelt sind, allesamt aus derselben Fraktion stammen: den europäischen Sozialdemokraten, kurz S&D.

Und das wiederum führt dazu, dass im EU-Parlament inzwischen eine Frage gestellt wird: Wen betrifft dieser Skandal eigentlich - das ganze Parlament oder nur eine Fraktion? "Am Anfang standen wir alle unter Schock und haben uns gefragt, was da wohl noch alles kommt", sagt Körner. "Aber jetzt, nach einem Monat, müsste man wohl schon mal thematisieren, dass es nur die Sozialdemokraten sind."

Der EU-Abgeordnete Daniel Freund von den Grünen sieht das ähnlich. Korruption sei immer eine Sache des Gebens und Nehmens, sagt er. Und als Nehmer entlarvt wurden - zumindest nach dem aktuellen Ermittlungsstand - eben nur S&D-Parlamentarier. Es sei natürlich nicht richtig, jetzt loszukeilen und zu behaupten, alle Sozialdemokraten seien korrupt, sagt Freund. "Aber es gibt schon eine kollektive Verantwortung einer Fraktion, mal genauer hinzuschauen, wenn Mitglieder seltsame Dinge tun."

"Das war schon komisch"

Mit einer solchen kollektiven Verantwortung scheint sich die S&D-Fraktion allerdings schwer zu tun. Dass sich zum Beispiel Eva Kaili, deren steile Karriere von der S&D-Fraktionschefin Iratxe García Pérez gefördert wurde, für eine europäische Sozialdemokratin auffällig freundlich über Katar äußerte, war durchaus bekannt. Ebenso, dass sie in einem Ausschuss, in dem sie nicht Mitglied war, bei einer Entscheidung zur Visafreiheit für katarische Bürger mitgestimmt hat. Das sei schon komisch gewesen, erinnert sich Körner, der ebenfalls bei der Sitzung war.

Und auch heute ist von Schuldbewusstsein bei den europäischen Sozialdemokraten nicht viel zu spüren. Den Vizepräsidentenposten von Kaili, die inzwischen dieses Amtes enthoben wurde, beansprucht die S&D ganz selbstverständlich wieder für sich. "Wir haben ein Recht darauf", heißt es in der Fraktion. Wenn man mit S&D-Abgeordneten über ihre korrupten Kollegen redet, hört man vor allem Ausflüchte. "Das hätten auch alles Katholiken sein können", sagt ein Parlamentarier. "Ich kannte die nur vom Hallo-Sagen in der Fraktion." Und überhaupt: Es sei doch völlig unplausibel, dass Katar sich nur an eine Fraktion im Parlament herangemacht habe.

Allerdings gehört es zu den Besonderheiten des europäischen Parlamentarismus, dass die Abgeordneten allzu harsche parteipolitische Attacken in der Regel vermeiden. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP), der die deutschen Unionsparteien angehören, hatte kurz nach der Festnahme Kailis eher halbherzig versucht, die S&D-Fraktion anzugreifen. Nach ein paar scharfen Tweets schwenkten die Konservativen dann aber auf die Linie ein, die Parlamentspräsidentin Metsola ausgegeben hatte: Das ist ein Angriff auf das gesamte EU-Parlament, auf Europas Demokratie.

Metsola gehört selbst der EVP-Fraktion an. Sie ist eine charismatische, energische Politikerin - wenn sie wollte, könnte sie den Sozialdemokraten durchaus einheizen. Es mag daher seltsam erscheinen, dass sie den politischen Gegner schont. Denn de facto profitiert die S&D-Fraktion davon, wenn der Korruptionsskandal in der Öffentlichkeit als Problem des ganzen Parlaments gesehen wird, nicht als Problem der Sozialdemokraten.

Doch Metsola ist vor allem daran interessiert, die Institution zu schützen, die sie anführt. "Meine Verantwortung ist es, dafür zu sorgen, dass dieses Parlament stolz auf seine Integrität sein kann", sagt sie. Außerdem will sie das Parlament arbeitsfähig halten. Und das geht nur, wenn es eine Mehrheit aus Konservativen und Sozialdemokraten gibt. Es sei immer leicht, mit dem Finger auf andere Parteien zu zeigen, sagt Metsola. Sie lehne das ab.

Metsola arbeitet daher nun daran, die Regeln zu verschärfen, die Korruption im EU-Parlament verhindern sollen. Die Abgeordneten sollen künftig sehr viel genauer darlegen müssen, wen sie wann und zu welchem Zweck treffen, von wem sie Geschenke erhalten und wer sie zu Reisen einlädt. Bisher wird das offenbar eher locker gesehen: Die S&D-Abgeordnete Maria Arena legte vor einigen Tagen ihr Amt als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Parlaments nieder, weil sie eine von Katar bezahlte Reise - einschließlich Business-Class-Flug und Fünf-Sterne-Hotel - nicht deklariert hatte.

Zudem hat Metsola ein Auge auf die Europawahl im Frühjahr 2024. "Wir werden dann die Bürger bitten, uns ihr Vertrauen zu schenken", sagt sie. Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner zieht dagegen einen anderen Schluss aus dem Katargate-Skandal. Wenn man die politische Verantwortung für Fehler nicht klar benenne, bekomme der Wähler den Eindruck, er könne mit seiner Stimme nichts verändern, sagt er. Das helfe Europas Demokratie nicht.

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