Corona-Pandemie in Italien:Wurde die Lage in Bergamo fahrlässig unterschätzt?
Lesezeit: 3 Min.
Tausende Italiener starben, weil die Verantwortlichen in der lombardischen Stadt falsch auf die ersten Corona-Infektionen reagierten - sagt die Staatsanwaltschaft dort. Sie belastet einige prominente Politiker des Landes.
Von Oliver Meiler, Rom
4148 Leben hätten gerettet werden können, wenn damals, vor genau drei Jahren, in Bergamo eine "rote Zone" eingerichtet worden wäre. Zum Schutz der Menschen vor Corona. Zu dieser erstaunlich präzisen Zahl kommt ein Gutachten, das nun zu den Justizakten gehört, die bald in ein Gerichtsverfahren münden könnten: Einen Prozess über angebliche Verfehlungen bei der Bewältigung der ersten Pandemiephase.
Ein ganzer Berg von Akten ist da zusammengekommen. Die Liste der Beschuldigten umfasst 17 Namen, es sind viele Prominente darunter, nationale und regionale Politiker vor allem. Unter ihnen: Italiens damaliger Premier Giuseppe Conte und dessen Gesundheitsminister Roberto Speranza. Sie werden verdächtigt, Risiken fahrlässig unterschätzt zu haben.
Aber zunächst zum Kontext. Vor drei Jahren schauten Italien und die ganze Welt nach Bergamo und in die Bergamasca, das Hinterland der lombardischen Stadt mit seinen vielen, international erfolgreichen Fabriken. Als dort die ersten Ansteckungsfälle bekannt wurden, beeilte sich der regionale Arbeitgeberverband, die vielen Kunden im Ausland zu versichern, dass alles gut sei, dass man die Sache im Griff habe. #bergamoisrunning, unter diesem Hashtag lief die Kampagne. Dabei hatte sich schon früh herumgesprochen, dass viele Menschen an Lungenentzündungen litten.
Ein Krankenhaus wurde zum großen Ansteckungsherd für die ganze Umgebung
Am 23. Februar 2020 war der erste Fall von Sars-CoV-2 entdeckt worden: im Krankenhaus von Alzano, in der Val Seriana. Die voll belegte Klinik wurde an jenem Tag sofort geschlossen - und zur allgemeinen Verwunderung nach drei Stunden und einigen oberflächlichen Reinigungsarbeiten wieder geöffnet. So hatten es die lokalen und regionalen Gesundheitsbehörden beschlossen. Warum, ist bis heute rätselhaft. Das Krankenhaus von Alzano sollte zum großen Ansteckungsherd für die ganze Umgebung werden.
Erstaunlich war der Fall der Val Seriana auch deshalb, weil einige Tage zuvor nur etwas weiter südlich, im ebenfalls lombardischen Codogno, nach dem positiven Test eines Patienten im dortigen Krankenhaus ganz anders verfahren wurde - auch national. In Codogno und in den umliegenden Gemeinden wurde eine sogenannte "Zona rossa" eingerichtet: Die Zufahrten wurden von Carabinieri bewacht, die Menschen durften ihre Häuser nicht mehr verlassen - es war die erste Form eines totalen Lockdowns in Europa, verordnet von Rom.
Warum verfuhr man in Bergamo anders? Bergamo wurde erst "rote Zone", als die nationale Regierung das gesamte Land unter einen Lockdown setzte. Am 8. März 2020.
"Bergamo" wurde nun zur dramatischen Chiffre einer Seuche, die nach China auch Europa traf. Es hieß bald, Bergamo sei das "Wuhan des Westens", das "neue Epizentrum" von Corona. Die Bilder langer Schlangen von Militärlastern, mit denen die vielen Toten mitten in der Nacht aus der Gegend zur Kremation in andere Städte gebracht werden mussten, weil es auf den Friedhöfen rund um Bergamo keine freien Plätze mehr gab, brannten sich für immer in die Köpfe ein, zumindest in Italien.
Italien konnte noch nicht auf Erfahrungen anderer westlicher Länder zurückgreifen
Die Vereinigung der Opferangehörigen wandte sich schon im April 2020 an die Staatsanwaltschaft von Bergamo. Jetzt ist die Phase der Untersuchungen abgeschlossen; ein Ermittlungsrichter muss entscheiden, ob das gesammelte Material ausreicht, um die Beschuldigten vor Gericht zu stellen. Sicher ist das nicht, schließlich waren damals alle überfordert. Es gab in jener Phase auch noch keinen Anschauungsunterricht, wie andere Demokratien mit der Notsituation umgingen - man war ja die erste.
Beschuldigt werden neben Conte und Speranza auch der Präsident der lombardischen Regionalregierung, Attilio Fontana von der rechten Lega, und dessen damaliger Verantwortlicher für das Gesundheitswesen, Giulio Gallera. Dazu alle prominenten Persönlichkeiten aus der wissenschaftlichen Taskforce und des Zivilschutzes.
Wenn die Italiener ihre Namen hören, fühlen sie sich zurückversetzt in eine bedrückende, beängstigende Zeit, als man jeden Abend an den Lippen der Virologen und Ärzte hing, die im Fernsehen auftraten. Sie warnten viel, aber sie überdramatisierten nie. Es ist auch denkwürdig, dass ausgerechnet jene westliche Regierung nun für ihren angeblich fahrlässigen Umgang mit der Pandemie belangt werden könnte, die von allen wohl die härtesten Maßnahmen ergriff, um die Pandemie zu bändigen. Allein, in Bergamo, in Alzano und Nembro war sie damit zu spät dran.
"Mein Ziel ist es", sagt Staatsanwalt Antonio Chiappani, "dass die Menschen erfahren, was passiert ist." Die Anwälte der Angehörigen formulieren es in ihrem Communiqué drastischer: "Ab heute schreiben wir die Geschichte des bergamaskischen und lombardischen Massakers um", heißt es da. "Es ist die Geschichte unserer Familien, die Geschichte der Verantwortlichkeiten, die zu unseren Verlusten geführt haben." Zu den 4148 Todesopfern, die vielleicht hätten verhindert werden können.