Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Lockdown oder Lockerung?

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Die Menschen erhoffen sich vom Treffen zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten am Mittwoch eine konkrete Öffnungsstrategie. Doch dafür müssten die Infektionszahlen weiter runter.

Von Peter Fahrenholz, München

Die bisherigen Corona-Treffen zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten verliefen mehr oder minder nach dem gleichen, ernüchternden Schema: endlose Treffen, bei denen man sich oft stundenlang in Details verhakte, am Ende stand ein mühsamer Kompromiss, und kurze Zeit später wurden aus einzelnen Ländern die ersten Ausnahmen verkündet.

An diesem Mittwoch könnte es noch schwieriger werden, sich auf einen gemeinsamen Kurs zu verständigen. Denn die Politik steckt in einem Dilemma, dem sie nur schwer entrinnen kann. Nach drei Monaten Lockdown, der erst ein Lockdown light war und dann nachgeschärft wurde, sind die Menschen mürbe geworden. Es reicht deshalb dieses Mal nicht, den Lockdown einfach nur wieder für ein paar weitere Wochen zu verlängern, in der Hoffnung, dass dann die Infektionszahlen endlich stark genug gesunken sind. Die Politik muss eine glaubhafte Öffnungsperspektive formulieren, ab wann Lockerungen möglich werden, ohne dabei zu hohe Erwartungen zu wecken. Es ist von Stufenplänen die Rede, auch die Kanzlerin hat in der ARD-Sendung "Farbe bekennen" eine entsprechende Andeutung gemacht.

Alle Ministerpräsidenten und -präsidentinnen wissen, dass sie jetzt sofort keine Lockerungen vornehmen können, es wird sich niemand dafür aussprechen, den Lockdown wie vereinbart am 14. Februar auslaufen zu lassen. Doch bei der Frage, wann man den Fuß von der Bremse nehmen kann, könnte es mit der Einigkeit schnell vorbei sein. Denn es hat sich bei vielen eine sehr trügerische Hoffnung eingenistet: der Inzidenzwert 50.

Auch ein Inzidenzwert von 50 ist noch zu hoch

Wochenlang wurde dafür getrommelt, dass die Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen erst wieder unter die Schwelle von 50 sinken müssten. Das hat bei vielen den Eindruck erweckt, dass man die Dinge dann einigermaßen entspannt betrachten könne. Untergegangen ist dabei, dass auch ein Inzidenzwert von 50 viel zu hoch ist, um in großem Stil Lockerungen vorzunehmen, insbesondere angesichts der Bedrohung durch die weit ansteckendere britische Mutante.

Im Sommer galt die Zahl von 50 als Maximalwert, ab dem unbedingt Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssen. Auch damals war dieser Wert eine mehr oder minder willkürlich gewählte Grenze, das Ergebnis eines politischen Kuhhandels. Einige Ministerpräsidenten haben damals deshalb bereits bei einem Wert von 35 eine erste Alarmstufe festgelegt. Und jetzt soll ein Inzidenzwert von 50 plötzlich den Startschuss für alle möglichen Lockerungen bedeuten?

Erneut droht die Gefahr, dass die Politik nur einen Teil der Botschaft wahrnimmt, den ihr Wissenschaftler, die sich in der "No Covid"-Initiative zusammengefunden haben, seit Wochen zurufen. Dass nämlich ein Weg aus dem Elend immer neuer Lockdowns durchaus möglich ist, und zwar relativ schnell. Dass aber davor die Infektionszahlen nochmals drastisch nach unten gedrückt werden müssen, weit unter die 50, in Richtung 10 oder noch niedriger. Im Sommer, das haben viele inzwischen vergessen, lagen die Inzidenzwerte in den meisten Regionen Deutschlands im einstelligen Bereich.

Angepeilt werden sollte ein R-Wert von 0,7

"Jetzt zu früh zu lockern, hieße, die Fallzahlen gehen wieder hoch", warnt etwa die Physikerin Viola Priesemann, die als Leiterin einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation die Ausbreitungsdynamik des Sars-CoV-2-Virus untersucht. Wie eine rasche Reduktion der Infektionszahlen Richtung null möglich ist, haben die Experten der Politik wieder und wieder vorgerechnet. Vor wenigen Tagen hat die Virologin Melanie Brinkmann in einem Spiegel-Interview erläutert, dass sich die Infektionszahlen binnen einer Woche halbieren lassen, wenn es gelingt, den R-Wert, der anzeigt wie viele andere Menschen ein Infizierter ansteckt, auf 0,7 zu drücken. Bis Ostern könne man dann am Ziel sein.

Dafür müsste die Politik am Mittwoch allerdings den Mut aufbringen, einen Beschluss mit folgender Botschaft zu fassen: Leute, wir können bald vieles lockern, aber vorher müssen wir noch mal für ein paar Wochen verschärfen. Priesemann sagt, gegenwärtig befinde sich Deutschland allenfalls in einem "Dreiviertel-Lockdown". Vor allem beim Thema Arbeit gebe es Spielraum, um die Zahlen nach unten zu drücken. "Entweder Home-Office oder engmaschiges Testen am Arbeitsplatz", sagt sie.

Schulen und Kitas sollen zuerst wieder öffnen, darüber besteht Einigkeit

Aber der Druck ist enorm, so schnell wie möglich bestimmte Bereiche wieder zu öffnen. Vor allem Schulen und Kitas stehen ganz oben auf der Liste, darin wenigstens sind sich wohl alle einig. Innenminister Horst Seehofer hat dafür plädiert, auch die Friseure wieder arbeiten zu lassen, weniger wegen seiner eigenen Matte, sondern um die Schwarzarbeit in diesem Bereich einzudämmen. Es ist absehbar, dass innerhalb kürzester Zeit weitere Forderungen folgen werden.

Priesemann appelliert deshalb an die Politik, nicht alles gleichzeitig zu öffnen, sondern die Reihenfolge genau zu überlegen. Lockerungen dürften auf keinen Fall das lokale Pandemiemanagement gefährden.

Was passiert, wenn man die Kontrolle über die Pandemie verliert, macht Priesemann an einer Alterskohorte fest, die noch nicht einmal zur allerhöchsten Risikokategorie der Hochbetagten gehört, und die 25 Millionen Menschen umfasst: den 50- bis 75-Jährigen. Die Sterbewahrscheinlichkeit durch Covid-19 liege für diese Altersgruppe bei 0,5 bis ein Prozent. Wenn also nur ein Prozent dieser 25 Millionen Menschen mit Covid-19 auf der Intensivstation lande, bedeute das 250 000 Anwärter, die irgendwann ein Intensivbett bräuchten.

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