Süddeutsche Zeitung

Chinas Regierungschef Wen in Berlin:Ein Gast, der sich nicht beugen muss

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Wandel durch Handel? Der Handel mit China blüht, der Wandel im Land aber wird von der Kommunistischen Partei verfolgt und eingesperrt. Die Regierung sieht keinen Grund, daran etwas zu verändern: In Berlin wird Ministerpräsident Wen Jiabao umworben wie der Vertreter eines Geberlandes. Jeder möchte möglichst viele Flugzeuge, Autos und Kraftwerke verkaufen.

Kurt Kister

Ein Regierungssprecher kann der Kanzlerin von Nutzen sein; das hat Ulrich Wilhelm bewiesen. Seinem Nachfolger Steffen Seibert ist dies bisher weniger gut geglückt. Immerhin aber hat Seibert am Dienstag, wenn auch nur rein technisch, eine Kommunikationspanne behoben: Als Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao der Kopfhörer zu versagen schien, während Merkel über Menschenrechte sprach, versorgte Seibert den Chinesen mit einem neuen Gerät. Danach konnte Wen wieder verstehen, was er öffentlich sowieso nicht hören will.

Die demonstrative Erwähnung von Menschenrechten und Pressefreiheit gehört zum Ritual der chinesisch-deutschen Beziehungen. Anders als ihr Vorgänger Schröder macht Angela Merkel dabei den Eindruck, dass sie ernsthaft auf Wandel durch Handel hofft, selbst wenn es dafür in China momentan wenig Indizien gibt. Der Handel blüht, der Wandel aber wird verfolgt und eingesperrt.

Weil das relativ freie Wirtschaften unter politisch autoritären Bedingungen in China so gut zu funktionieren scheint, reist Wen nicht als einer, der sich auch nur ein wenig beugen will, durch Europa. Im Gegenteil, er hatte für Deutschlands Wirtschaft so viele Verträge im Gepäck, dass nach diesem Besuch noch mehr Leuten in Berlin und anderswo werterelativierende Erklärungen von den Lippen perlen werden, dass China eben "anders" sei und man dies berücksichtigen müsse.

Auch weil Chinas Regierungschef heute der Mann mit dem schier unerschöpflichen Geldbeutel zu sein scheint, gibt es in der EU keine einheitliche China-Politik. Jeder möchte möglichst viele Flugzeuge, Autos, Eisenbahnen oder Kraftwerke verkaufen; jeder zielt auf den Riesenmarkt, auf dem sich vielleicht alles unterbringen lässt, was die einen in Europa schon längst haben und die anderen sich nicht mehr leisten können.

Wen Jiabao weiß, dass er und sein Land die Umworbenen sind, die eigentlich keine Zugeständnisse machen müssen. In Berlin hat er dies durch den kühlen Hinweis deutlich gemacht, ein starker Euro liege auch in Chinas Interesse, so dass sein Land "eine helfende Hand" ausstrecken werde.

Ob auf das amerikanische 20. Jahrhundert nun das chinesische 21. Jahrhundert folgt, ist noch ungewiss. Wirtschaftskraft, Demographie und ein bisher eher stabiler Autoritarismus sprechen dafür. Das Selbstbewusstsein der Führungsmacht jedenfalls haben Chinas Mandarine aus KP und Wirtschaft entwickelt. Dies wird nicht nur daran deutlich, dass Wen in London, Budapest oder Berlin auftrat wie der Premier eines Geberlandes.

Längst hat man in China auch die Attitüde des imperialen Reisens in der Ehrfurcht heischenden Großgruppe entwickelt. Man kommt mit Vielen, um Interesse, aber durchaus auch Neigung zur Dominanz zu demonstrieren. Dass dann in einem dieser europäischen Mittelstaaten nicht einmal der Kopfhörer funktioniert, nimmt man lächelnd zur Kenntnis.

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Quelle:
SZ vom 29.06.2011
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