China:Immun gegen Skandale
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Die Menschen in China sind wütend über gefälschte Impfstoffe für Babys. Es ist nicht der erste Fall dieser Art, der die Bevölkerung verunsichert. Doch der Staat reagiert, über das Löschen von kritischen Artikel und Kommentaren hinaus, kaum.
Von Kai Strittmatter, Peking
Und wieder trifft es die Kinder. Ihren Tollwut-Impfstoff empfahl die Firma Changchun Changsheng Biotech für Babys ab drei Monaten. Vorige Woche kam dann heraus: Die Herstellungsdaten waren gefälscht. Drei Tage später erwischte es einen anderen Impfstoff desselben Herstellers, gegen Diphterie, Keuchhusten und Tetanus. Mehr als 250 000 Chargen wurden als minderwertig eingestuft. Viele davon sind offenbar noch im Umlauf. Mögliche Auswirkungen? Weder Firma noch Behörden gaben bislang darüber Auskunft. "Wir schämen uns zutiefst", teilte die Firma, deren Namen "Langes Leben" bedeutet, in einer Erklärung mit.
Chinas Premier Li Keqiang ordnete am Montag eine Untersuchung an. Der Skandal hat im Land alles andere als Gesprächsthema Nummer eins verdrängt. Besorgnis, Zorn und Empörung beherrschten die Kommentarspalten in den sozialen Medien. "Diese Impfstoffe werden dir und deinen Kindern jeden Tag injiziiert", hieß es in einem Essay im Social-Media-Dienst Wechat, der darauf hinwies, dass die Besitzer der betroffenen Firma in anderen Unternehmen auch Impfseren gegen Hepatitis B und Influenza produzierten. Viele Internetnutzer schworen, nie wieder in China produzierte Impfstoffe zu benutzen.
Es ist die Stunde der Zensoren: Kritische Artikel und Kommentare werden im Akkord gelöscht
Der Skandal trifft ins Herz eines zutiefst verunsicherten Volkes von Konsumenten, über das seit Jahren ein Skandal nach dem anderen hinwegrollt: vergiftete Lebensmittel, gefälschte Medikamente - und vor zwei Jahren erst: der letzte Betrugsskandal mit unbrauchbaren Impfstoffen. "Chinesische Impfstoffe sicher!", meldete damals nach dem Skandal die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. "China hat jetzt ein landesweites Managementsystem, das den Standards der Weltgesundheitsorganisation genügt und die Sicherheit seiner Impfstoffe gewährleistet", zitierte Xinhua einen Experten, das war, wie gesagt, der Skandal von 2016. Der wiederum auf den Impfstoffskandal von 2010 gefolgt war. Davor hatte es den Skandal mit dem gefälschten Milchpulver gegeben, an dem 300 000 Babys erkrankt waren.
Und jetzt der neueste Streich. "Eine Gesellschaft, die all ihre Werte verloren und verkauft hat und in der nur mehr der Profit und der eigene Vorteil zählen", sieht in Peking die Autorin Dai Qing am Werk, die bis zu ihrem Berufsverbot 1989 einst selbst als investigative Journalistin gearbeitet hatte: "Und eine Politik, die diese Gesellschaft korrumpiert und jede Art von Überwachung unmöglich macht." Wut und Verurteilung seien keine Lösung, hieß es in einem Kommentar des Shanghaier Portals The Paper: "Es fehlen Aufsicht und Überwachung".
In Peking versicherte ein Beamter, die Bürger bräuchten sich keine Sorgen zu machen, weil die betroffenen Impfstoffe in der Hauptstadt nicht im Umlauf seien. Das Parteiblatt Volkszeitung rief die Behörden auf, schnell Maßnahmen zu ergreifen: "Verhindert die Verbreitung von Furcht und Zorn". Wie immer in solchen Fällen verstanden das vor allem die Zensoren als Aufruf zum Übereifer: Kritische Artikel und Kommentare werden im Akkord gelöscht.
Dem tief sitzenden Misstrauen schafft das keine Abhilfe. Es wurde bekannt, dass die Aufsichtsbehörde in der Provinz Shandong nun eine Strafe von 3,4 Millionen Yuan gegen die Firma Changsheng verhängt hat, umgerechnet etwa 428 000 Euro - im vergangenen Jahr hatte die börsennotierte Firma einen Gewinn von 566 Millionen Yuan gemeldet. Und im Jahresbericht der Firma wurden allein für das Jahr 2017 mehr als 48 Millionen Yuan Regierungssubventionen verzeichnet - 14 Mal so hoch wie das Bußgeld nun.
Was vor allem viele Eltern unter den Kommentatoren mal wieder "den Glauben an das System verlieren lässt" (so die South China Morning Post), sind dessen grundlegenden Mängel, die ein jeder Skandal aufs Neue aufscheinen lässt: seine Intransparenz und Korruption, die Folgenlosigkeit illegalen Tuns, die scheinbare Unantastbarkeit vieler Verantwortlicher.
Die in den USA lebende Bürgerrechtlerin Wang Yaqiu verwies am Montag auf Twitter auf drei beispielhafte chinesische Schicksale: Da ist der Guangzhouer Anwalt Tang Jingling, der einst die Opfer fehlerhafter Impfstoffe vertrat und nun im Gefängnis sitzt. Da ist der Journalist Wang Keqin, der 2010 für die China Economic Times enthüllte, dass in Shanxi mehrere Hundert Kinder an minderwertigen Impfstoffen gestorben waren oder schwere Behinderungen davontrugen - er wurde nach der Geschichte gefeuert. Und da ist Sun Xianze, der Beamte, der 2008 mitverantwortlich zeichnete für das vergiftete Milchpulver. Er wurde 2012 befördert und ist heute als Vizeminister der Lebensmittel- und Medikamentenaufsichtsbehörde zuständig unter anderem für Impfstoffe.
"Dies ist nicht das erste Mal", schrieb Wang Yaqiu. "Und es wird nicht das letzte Mal sein."