Süddeutsche Zeitung

Bundeswehr:"Die Achillesferse ist und bleibt das Material"

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Fast fünf Jahre hat Jörg Vollmer Kommando über das Heer der Bundeswehr - nun gibt er seinen Posten ab. Im Gespräch erklärt er, warum der Panzer Puma noch immer nicht einsatzbereit ist und was gegen die Rückkehr zur Wehrpflicht spricht.

Interview von Mike Szymanski, Berlin

Seit Russland 2014 die Krim annektiert hat, hat sich die Weltlage verändert. Deutschland muss sich wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung zurückbesinnen. Es geht um Abschreckung, so wie in vergangenen Tagen: Minenverleger, die eigentlich für die Verschrottung vorgesehen waren, werden in Betrieb genommen, Soldaten legen ihr Gelöbnis wieder vor dem Reichstag ab und beim Nato-Verbündeten Litauen führt die Bundeswehr einen multinationalen Kampfverband an. Die Bundeswehr soll wieder wachsen, in den Kasernen kämpfen sie vor allem gegen den Mangel an Ausrüstung an.

Vieles ist im Umbruch. Für Generalleutnant Jörg Vollmer sind die letzten Arbeitstage als Inspekteur des Heeres angebrochen. Ihm unterstand fast fünf Jahre lang die größte Teilstreitkraft der Bundeswehr, 60 000 Soldaten. Am 13. Februar übergibt er das Kommando an seinen Nachfolger. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung zieht Vollmer Bilanz über fünf Jahre, die die Bundeswehr verändert haben.

SZ: Es sitzen wieder häufig Soldatinnen und Soldaten in Uniform in Zügen, seitdem sie kostenlos Bahnfahren dürfen. Ein ungewohnter Anblick. Welche Erfahrungen machen Ihre Leute?

Jörg Vollmer: Sie machen sehr gute Erfahrungen. Die Menschen sprechen unsere Soldaten an. Viele wollen wissen, was sie machen und bewogen hat, zur Bundeswehr zu gehen. Man kommt wieder ins Gespräch.

Kommt es zu Anfeindungen?

Überhaupt nicht.

In den Jahren des Kalten Krieges war von einer Schicksalsgemeinschaft die Rede, in der sich Bürger und Soldaten befanden. Bedroht fühlten sich alle. Was verbindet Soldaten und Zivilisten heute?

Es verbindet sie, dass die Soldaten selbstverständlich auch Staatsbürger sind, aber in Uniform. Sie bringen genauso ihre Kinder morgens in die Kindergärten und sie gehen in die Sportvereine. Sie tragen das öffentliche Leben mit.

Soldaten werden in diesem Jahr so präsent sein, wie seit vielen Jahren nicht mehr. In diesem Monat werden die Amerikaner beginnen, für eine Übung 37 000 Soldaten und deren Gerät durch Deutschland an die Ostflanke der Nato zu verlegen. Erleben wir die Rückkehr des Militärischen?

Nein, auf keinen Fall. Es geht um eine Übung. Sie wird professionell und ruhig durchgeführt, wir helfen dabei. Aber es wird sich in den nächsten Jahren tatsächlich etwas grundlegend verändern: Jeder Soldat, der bei der Bundeswehr gedient hat, egal ob als freiwillig Wehrdienstleistender, als Soldat auf Zeit oder als Berufssoldat wird künftig noch weitere sechs Jahre grundbeordert sein. Das bedeutet: Wir werden es erleben, dass auch Reservisten wieder zu Übungen eingezogen werden, damit wir sie im Krisenfall einsetzen können. Arbeitgeber und Familien werden sich damit auseinandersetzen müssen.

Dann fehlt bald nur noch ein Puzzleteil - die Rückkehr zur Wehrpflicht?

Nein. Wir haben heute hochkomplexe Waffensysteme. Diese kann man nur noch bedienen, wenn man lange und tagtäglich damit zu tun hat. Dieses Wissen kann bei einem kurzen Wehrdienst, zuletzt sechs Monate, nicht mehr vermittelt werden. Auch die Vielzahl an Aufträgen ist nur noch mit einer rein professionellen Armee zu leisten.

Und wie sieht es mit einem allgemeinen "Deutschlandjahr" aus, das in der Union immer mal gefordert wird. Schulabgänger sollen einen Dienst etwa bei der Feuerwehr oder eben auch bei der Bundeswehr ableisten?

Das ist eine ganz andere Nummer. Wenn das kommt, freue ich mich darüber. Wenn diese politische Entscheidung getroffen wird, würden wir dann auch die Kapazitäten dafür aufbauen. Aber es ist erstmal eine politische Entscheidung, ob man so ein Dienstjahr haben will.

Ein Jahr lang Schnupperkurs für junge Leute könnte die Bundeswehr stemmen?

Das wäre mehr als nur ein Schnupperkurs. Sie würden schon richtig ausgebildet.

Braucht man dafür eine eigene Verwaltung?

Nein, aber zusätzliche Infrastruktur. Wir müssten auch die Ausbildung überprüfen und anpassen. Aber: Machbar ist das.

Bei öffentlichen Gelöbnissen regt sich nichts mehr, nicht einmal starker Protest. Ist das ein gutes Zeichen?

Es zeigt doch, dass die Menschen verstanden haben, dass es Sicherheit nicht umsonst gibt. Die Ereignisse von 2014 und 2015 haben Eindruck hinterlassen. Es geht um den Krieg in der Ukraine, die Annexion der Krim, den Aufbau des IS-Kalifats, die die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen grundlegend verändert haben. Wir haben eine Flüchtlingswelle erlebt, die nach Deutschland kam. Die Menschen haben verstanden: Wenn wir nicht helfen, die Probleme dort zu lösen, wo sie entstehen, dann kommen die Probleme zu uns.

Wer sich heute auf Bundeswehr einlässt, muss fest damit rechnen, irgendwann in den Einsatz zu gehen und Gefahren ausgesetzt zu sein?

Uneingeschränkt: Ja.

Das war früher anders.

Vor der Wende galt: Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Heute müssen wir uns drauf einstellen: Wo immer Krisen entstehen, werden auch wir, nach einer politischen Entscheidung, unseren Beitrag zur Sicherheit Deutschlands leisten müssen.

Sie haben den Umbau hin zu einer Armee, die wieder Bündnis- und Landesverteidigung können soll, von Anfang an mitgemacht. Wie weit ist die Bundeswehr gekommen?

Wir sind einen großen Schritt vorangekommen. Wir haben zum Beispiel unseren Bündnispartnern im Osten, ob das die drei baltischen Staaten sind oder Polen, sehr schnell mit "Enhanced Forward Presence", also mit Truppe vor Ort, unterstützt und damit eindrucksvoll bewiesen, dass wir zu unseren Bündnisverpflichtungen stehen. Wir waren die ersten, die 2017 in Litauen mit einem von Deutschland geführten multinationalen Verband glaubhaft mit dazu beigetragen haben, dass die Nato die Verteidigung dieses Bündnisses ernst nimmt.

Zur schnellen Einsatzbereitschaft gehört, über das entsprechende Material zu verfügen. 2015 war das nicht der Fall. 2019, als Deutschland zuletzt die sogenannte schnelle Eingreiftruppe der Nato, die Speerspitze, stellte, musste Ausrüstung zusammengeklaubt werden. Wie wird es 2023 sein, wenn Deutschland wieder in dieser Schlüsselrolle ist?

Die Lage wird dann besser sein. Aber es wird uns bis dahin noch nicht gelingen, die Truppe zu 100 Prozent mit eigenem Material für diese Aufgabe auszustatten. Ich habe mir das anders vorgestellt und die Vollausstattung gefordert. Jetzt realisieren wir: Bestimmte Gegenstände werden nicht zeitgerecht zur Verfügung stehen. Das ist aber verkraftbar und wird durch alternative Maßnahmen aufgefangen.

Der Wehretat ist seit 2014 von etwa 33 Milliarden Euro auf 45 Milliarden Euro angestiegen. Wo liegen denn die Probleme?

Es ist gut, dass wir die notwendigen Finanzmittel in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt bekommen haben. Großprojekte können aber nur angegangen werden, wenn wir eine verlässliche mittelfristige Finanzplanung haben. Diese fehlt uns, auch wenn der Etat bisher regelmäßig gestiegen ist. Auf Sicht fahren, das funktioniert schlecht. Als Bundeswehr ist es uns nicht gelungen, in den vergangenen fünf Jahren unsere überbordende Bürokratie vollständig einzudämmen. Es ist nicht hilfreich, dass die Beschaffung etwa von Zelten und Rucksäcken und Helmen genauso planerisch durchgeführt wird wie die Beschaffung eines Panzers. Das müssen wir ändern.

Was konkret muss anders werden?

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Rucksack, der seinen Zweck erfüllt. Wenn Sie mehr davon brauchen, dann gehen Sie in den Laden und bestellen genau diesen nach. So funktioniert das bei uns nicht. Selbst bei bewährtem Gerät gehen wir heute in die Ausschreibung und bekommen am Ende womöglich ein anderes Produkt. Davon müssen wir wegkommen.

Ihr Problem im Heer ist ja weniger der Rucksack, sondern eher der Schützenpanzer Puma. Modernes Gerät, das auch nach vielen Jahren immer noch nicht einsatzreif ist. Erklären Sie doch mal, warum das so ist.

Einsatzreif heißt: Der Puma funktioniert, er ist abgenommen. Ersatzteile sind auf Lager, Spezialwerkzeug ist angeschafft und das Personal für die Instandsetzung ausgebildet. Das ist aber immer noch nicht der Fall. Die gesamte Peripherie stimmt noch nicht.

Wer hat denn seine Arbeit nicht gemacht?

Wir haben nicht im notwendigen Umfang das Material angeschafft, das wir brauchen. Das ist unser Versäumnis. Die Bundeswehr musste lange sparen und hat dann nicht die entsprechenden Verträge, wie zum Beispiel über die Bereitstellung von Ersatzteilen, abgeschlossen. Hinzu kommt Unzuverlässigkeit seitens der Industrie bei der Auslieferung. Fahrzeuge haben teils unterschiedliche Software aufgespielt, weil sie aus unterschiedlichen Fabriken kommen. Unsere Instandsetzer können nicht ausgebildet werden, weil bestimmte Voraussetzungen fehlen. Da geht es um die technische Dokumentation. Das klingt lapidar, ist aber gravierend. Wir haben, wenn man so will, eine Beta-Version übernommen, um überhaupt unsere Soldaten daran schon einmal ausbilden zu können. Sonst hätten wir noch drei, vier Jahre auf den Puma warten müssen.

Und wann funktioniert der Puma?

Den Puma haben wir zusammen mit der Industrie schon auf einen guten Stand gebracht. Wenn aber nicht nachgewiesen werden kann, dass er bis zum Sommer einsatzreif ist, dann haben wir ein Problem. Wir haben entschieden, die gesamte Panzergrenadiertruppe mit dem Fahrzeug auszustatten. Um alle Grenadierverbände auszustatten, brauchen wir dann ein zweites Los an Puma-Schützenpanzern. Wenn er bis Sommer nicht zuverlässig seinen Auftrag erfüllen kann, dann müssen wir diese Entscheidung erneut auf den Prüfstand stellen.

Können Sie nicht einen Schützenpanzer von der Stange kaufen?

Nein, das funktioniert bei diesem System leider nicht. Bei allen Problemen: Der Puma ist, wenn er einsatzbereit ist, der modernste Schützenpanzer auf der Welt. Wenn ich jetzt einen Schützenpanzer von der Stange kaufen müsste, dann würde ich auf Produkte zurückgreifen müssen, die auf dem Konstruktionsstand der 80er Jahre sind. Es gibt derzeit keine einsatzreife Neuentwicklung eines Schützenpanzers auf dem Markt.

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer wünscht sich, dass die Industrie die Bundeswehr wieder wie einen Premiumkunden behandelt.

Wir möchten, dass unsere Industrie zuverlässig und in erster Linie uns bedient. Wir sind mit dem Gerät für die Industrie der Referenzkunde. Zum Beispiel hat sich Großbritannien auch für den Transportpanzer Boxer entschieden, weil sie sich von der Leistungsfähigkeit dieses Produkts am Beispiel einer deutschen Jäger-Kompanie überzeugen konnten. Sie konnten ihn anschauen und vergleichen. Die Australier haben sich dafür entschieden, nachdem sie hier in Deutschland gewesen sind und das Fahrzeug kennengelernt haben. Unsere litauischen Partner haben sich für den Boxer entschieden, weil sie ihn bei uns gesehen haben: Das ist ein zuverlässiges Fahrzeug.

Hat die Industrie diesen Effekt aus den Augen verloren?

Ja, dieses Gefühl haben wir.

Die Bundeswehr hat nicht nur mit der Industrie und dem Material zu kämpfen. Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels gab an, er bekäme bei Truppenbesuchen von Vorgesetzten zu hören, Soldaten seien heute "dicker, schwächer und dümmer". Ist das so?

Diese Aussage ist schlichtweg falsch. Beginnen wir bei der Bildung: Jeder Offizier hat selbstverständlich Abitur, sonst dürfte er nicht studieren. Bei den Feldwebeln haben 40 Prozent Abitur, die meisten anderen die mittlere Reife. In der Regel haben viele noch eine abgeschlossene Berufsausbildung. Besser geht es nicht. Bei den Mannschaftsdienstgraden haben einige Abitur, viele die mittlere Reife und die Übrigen den Hauptschulabschluss. Es gibt in der gesamten Bundeswehr nur etwa zwei Prozent Soldaten, die keine abgeschlossene Schulausbildung haben. Wie diese Aussage begründet wird, ist mir absolut schleierhaft.

Und was die Fitness angeht?

Da gilt: Wir müssen die jungen Männer und Frauen akzeptieren, wie sie kommen. Unsere Gesellschaft ist vielleicht nicht mehr so fit wie früher. Wir haben im Heer deshalb die Grundausbildung umgestellt. Die ersten sechs Wochen nutzen wir, um alle auf einen guten körperlichen Leistungsstand zu bringen. Dies hat sich bewährt. Das Ergebnis ist beeindruckend: Die körperlich Schwächeren holen auf, so dass wir für alle Soldaten einen gemeinsamen Abholpunkt erreichen.

In der Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte, KSK, gibt es besonders viele Rechtsextremismus-Verdachtsfälle. Insgesamt meldete der Militärische Abschirmdienst 550 Verdachtsfälle, etwa 20 allein beim KSK. Was läuft dort schief?

Ich habe keine zufriedenstellende Erklärung dafür, warum beim KSK die Zahl über dem Durchschnitt liegt. Ich kann sagen: Wir dulden diese Fälle nicht. Im KSK haben wir, wie in allen anderen Fällen auch, konsequent gehandelt und alle Maßnahmen getroffen, die uns gesetzlich zustehen. Die Sensibilität ist sehr hoch, die Bereitschaft, Vorfälle zu melden, gestiegen. Die vom MAD genannte Zahl umfasst alle Verdachtsfälle der letzten Jahre. Wenn dieser Verdacht sich gleichzeitig auf strafbares Handeln richtet, sind wir grundsätzlich verpflichtet, die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Wir müssen dann den Abschluss des Strafverfahrens abwarten, bevor der Fall dem Truppendienstgericht übergeben werden kann und dieses möglicherweise auf Entfernung aus dem Dienst urteilt. Bis am Ende tatsächlich ein gerichtliches Verfahren eröffnet wird, dauert es zu lange, manchmal zwei bis drei Jahre. Ich wünsche mir, dass wir das in gravierenden Fällen beschleunigen könnten.

Ex-Ministerin Ursula von der Leyen wollte mit ihrer "Trendwenden"-Politik die Probleme der Bundeswehr lösen. Aber viele bestehen fort. Ist sie gescheitert?

Nein. Sie hat erreicht, dass wir deutlich mehr Geld bekommen haben. Beim Personal greift die Trendwende. Wir haben Probleme, aber die Lücken schließen sich. Bei den Offizieren und Feldwebeln kommen bis zu vier Bewerber auf einen Dienstposten. Beim Material aber geht vieles nur schleppend. Die Achillesferse ist und bleibt das Material. Das betrifft die Anzahl, die Zuverlässigkeit und die zeitgerechte Beschaffung.

Wie es insgesamt um die Moral in der Truppe bestellt?

Die Soldaten sind motiviert, wenn sie mit ihrem Material arbeiten können. Wenn sie zur Bundeswehr gehen, um Fallschirmjäger zu werden, ist klar, dass sie dann auch Fallschirm springen wollen. Wer zur Bundeswehr geht, um Panzersoldat zu werden, erwartet, mit dem Panzer üben zu können. Dazu brauchen wir ausreichend Material. Die Stimmung ist trotz der noch schwierigen Materiallage gut, weil wir auch viele andere Aufträge haben, bei denen wir dieses Material nicht im vollen Umfang benötigen. Wir stellen unsere Kontingente etwa für Afghanistan, für den Irak und Mali.

Die neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat schon neue Pläne für die Bundeswehr. Sie will, dass sie sich stärker im Ausland einbringt, etwa in Mali an der Seite der Franzosen mehr leistet. Kann die Bundeswehr überhaupt weitere Aufgaben stemmen?

Ich kann nur für das Heer sprechen. Erst einmal braucht es dafür eine politische Entscheidung. Der Punkt ist dann: Wie lange müssen wir im Einsatz durchhalten können: geht es um fünf, zehn oder 20 Jahre? Dann wird das problematisch. Über einen bestimmten festgelegten Zeitraum, etwa ein Jahr, können wir aber sehr vieles leisten. Andere Nationen machen das auch so.

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