Süddeutsche Zeitung

NS-Überlebende in der Ukraine:Deutschlands historische Verantwortung

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Boris Romantschenko hat vier Konzentrationslager überlebt - nicht aber den Krieg in der Ukraine. Wie deutsche KZ-Gedenkstätten weiteren Betroffenen helfen wollen.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

Eines der Fotos, das von Boris Romantschenko geblieben ist, zeigt ihn im April 2015 auf dem Appellplatz des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. Mit der einen Hand stützt er sich auf seinen Gehstock, in der anderen hält er einen Zettel. "Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal!", liest Romantschenko auf Russisch vor. Der Satz ist Teil eines Schwurs, den sich die Häftlinge von Buchenwald nach ihrer Befreiung 1945 auferlegt hatten.

Viele von ihnen sind mittlerweile tot, vor ein paar Tagen ist auch Boris Romantschenko gestorben. Nicht etwa wegen seines hohen Alters von 96 Jahren oder einer schweren Krankheit. Bei einem Luftangriff auf die ukrainische Stadt Charkiw wurde das Haus, in dem er lebte, getroffen, seine Wohnung brannte aus. So steht es in einer Mail der Enkelin, die über Umwege im Postfach von Jens-Christian Wagner gelandet ist. Er ist der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, am Telefon klingt er traurig, aber auch wütend. Wagner beschreibt Romantschenko als "standhaften" und "engagierten" Mann. Als ukrainischer Vertreter des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora hat er die Gedenkstätte häufig besucht, das letzte Mal 2018. "Sein Tod macht mich fassungslos", sagt Wagner. "Aber er entlarvt auch den Zynismus und die Verlogenheit der russischen Propaganda."

Den Angriff auf die Ukraine hat Wladimir Putin auch unter dem Vorwand angezettelt, die Menschen von einem von "Faschisten" gesteuerten Regime befreien zu wollen. Jetzt richtet sich dieser Krieg auch gegen Menschen, die am eigenen Leib erfahren mussten, was Faschismus bedeutet.

Romantschenko war 16 Jahre alt, als ihn die Nationalsozialisten aus der Ukraine nach Deutschland verschleppten, in Dortmund musste er in den Kohlegruben schuften. Er versuchte, mit anderen Zwangsarbeitern zu fliehen, die SS sperrte ihn im Januar 1942 ins Konzentrationslager Buchenwald. Später kam er nach Peenemünde, wo er an der V2-Rakete mitbauen musste. Nachdem die Briten die Fertigungshalle bombardiert hatten, wurde Romantschenko nach Mittelbau-Dora verlegt, wo er monatelang unter Tage leben und arbeiteten musste. Er überstand den Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Als er schließlich befreit wurde, musste er in der Sowjetarmee dienen, um sich zu bewähren. Als ehemaliger Zwangsarbeiter stand er unter Verdacht, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Erst 1950 durfte er nach Hause zurückkehren.

Viele Ukrainer wurden als Zwangsarbeiter verschleppt und landeten im KZ

Am Dienstag gedachte der Bundestag Romantschenkos mit einer Schweigeminute. "Sein Tod mahnt uns, alles uns Mögliche zu tun, um diesen grausamen Krieg zu stoppen und den Menschen in der Ukraine zu helfen", sagte Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Deutschland trage eine historische Verantwortung.

Viele Biografien derer, die von den Nationalsozialisten aus der Sowjetunion verschleppt und in den Konzentrationslagern interniert wurden, ähneln der von Boris Romantschenko. Es sind nicht mehr viele, die von der Zeit berichten können. In der Ukraine sollen nur noch 42 000 Menschen leben, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Fast 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs stehen sie nun wieder Todesängste aus.

Mittlerweile hat sich ein Hilfsnetzwerk aus Gedenkstätten, Museen und anderen Initiativen gegründet, um ihnen zu helfen. Bei Jens-Christian Wagner ist gerade erst die Mail einer Frau eingegangen, die mit ihrem Vater, einem Überlebenden aus Buchenwald, in ein kleines Dorf nahe Kiew geflohen ist. Sie hat kein Geld für seine Medikamente, Wagner hat versprochen, es ihr zu überweisen. Er und seine Mitarbeiter sind auch bereit, an die ukrainische Grenze zu fahren und dort NS-Überlebende abzuholen, viele können aber nicht weg. "Sie sind selbst zu alt und gebrechlich - oder eben der Partner."

Auch Boris Romantschenko ist zuletzt nicht mehr aus der Wohnung gegangen, erst hatte er Angst vor dem Coronavirus, dann vor dem Krieg. Jens-Christian Wagner hat nun Kontakt zu dessen Sohn und Enkelin aufgenommen. Er will Geld schicken für die Beerdigung. Und er würde die Familie auch nach Deutschland holen, wenn sie denn will.

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