Süddeutsche Zeitung

Berlin:Nach der Wahl ist vor der Wahl

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Vor einem Jahr geriet der Wahltag in Berlin zur Blamage. Nun wird die Pannenwahl erstmals vor Gericht verhandelt. Ob neu abgestimmt werden muss, scheint dabei längst geklärt. Die Frage ist eher, in welchem Umfang.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Es gab sicherlich viele gut erklärbare Gründe, weshalb die Richter des Berliner Verfassungsgerichtshofs ausgerechnet an diesem Mittwoch zusammentreten. Die Symbolik des Datums ist dennoch nicht zu übersehen: Am 26. September 2021 erlebte Berlin eine seiner größten Blamagen seit dem Bau des Flughafens BER. 2,5 Millionen Berliner waren an diesem Tag zu gleich drei Wahlen aufgerufen: Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirksparlamente; hinzu kam noch ein Volksentscheid. Die Abstimmungen endeten im ziemlichen Chaos - auch, weil zeitgleich noch der Berlin-Marathon stattfand. Die Hauptstadt hatte sich übernommen. Wieder einmal.

An diesem Mittwoch nun, 367 Tage später, wird zum ersten Mal über diesen Sonntag zu Gericht gesessen. Dabei geht es ausschließlich um die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, die letztendlich die Sozialdemokratin Franziska Giffey zur Regierenden Bürgermeisterin machte. Das Interesse ist derart groß, dass die mündliche Verhandlung des Berliner Verfassungsgerichtshofs erstmals nicht im Plenarsaal oder in den Sälen des Kammergerichts stattfindet. Stattdessen wurde in den großen Hörsaal des Fachbereichs Chemie der Freien Universität eingeladen. Fast 600 Zuhörer finden dort Platz.

In Berlin gelten strikte Regeln, wer Einspruch gegen eine Wahl einlegen darf; deshalb sind gerade einmal 35 bei Gericht eingegangen. Vorerst sollen vier von ihnen verhandelt werden. Diese seien geeignet, "alle relevanten Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlgeschehen abzudecken", heißt es. Also zum Beispiel, wie es dazu kommen konnte, dass falsche oder zu wenige Stimmzettel ausgegeben wurden? Dass Berliner teils mehr als eine Stunde darauf warten mussten, wählen zu können? Dass das letzte Wahllokal erst um 21 Uhr schloss? In ihrem Abschlussbericht stellte die Landeswahlleiterin in 207 der knapp 2300 Wahllokale Unregelmäßigkeiten fest. Der Bundeswahlleiter ging einige mächtige Schritte weiter und sprach von einem "kompletten systematischen Versagen der Wahlorganisation" in der Hauptstadt.

Parallel zu der Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof wird auch der Teil der Wahl in Berlin untersucht, der die Bundestagswahl betrifft. Zuständig ist der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags. Weil sich bei einer Bundestagswahl - anders als in Berlin - jeder Wahlberechtigte beschweren kann, sind wesentlich mehr Einsprüche aufgelaufen, nämlich über 2000. Nach einer ersten, noch nicht öffentlichen Beschlussvorlage des Gremiums aus dem August soll in einem Fünftel der Wahlbezirke neu gewählt werden.

Die CDU plädiert dafür, in besonders vielen Wahlbezirken neu abstimmen zu lassen

Der Wahlprüfungsausschuss hat seinen Beschluss wegen der vielen zu untersuchenden Pannen immer wieder verschoben und wird nun am Donnerstag zusammenkommen. Eine offizielle Empfehlung für den Bundestag soll es jedoch erst im Oktober geben, der dann im November darüber entscheiden könnte. Beobachter vermuten auch, dass die Prüfer erst einmal den Spruch der Berliner Richter abwarten wollten. So solle verhindert werden, dass der Umfang der Neuwahlen zum Bundestag wie der zum Abgeordnetenhaus zu sehr voneinander abweicht. Dass die Wahlen in einzelnen Bezirken wiederholt werden müssen, davon gehen fast alle Experten aus.

Bei der Bewertung, in welchem Ausmaß neu gewählt werden muss, spielen auch politische Interessen eine Rolle - natürlich nur unausgesprochen. So plädiert die CDU sowohl im Bund als auch in Berlin dafür, in besonders vielen Wahlbezirken neu abstimmen zu lassen. Nach jüngsten Umfragen liegen die Christdemokraten in Berlin inzwischen weit vor der SPD - genauso wie auch die Grünen. Umgekehrt ist es sicherlich im Interesse der SPD, dass in möglichst wenigen Fällen neu gewählt wird. Dafür spreche nach Ansicht der Sozialdemokraten auch die Gesetzeslage, wonach nur dort neu gewählt werden darf, wo Fehler im Ablauf der Wahl vorliegen.

Als wie gravierend die einzuschätzen sind - das hängt dann wiederum auch davon ab, wie knapp das Ergebnis einzelner Kandidaten ausfiel. So holte beispielsweise die CDU-Kandidatin Monika Grütters ihr Bundestagsdirektmandat in Berlin-Reinickendorf mit nur 1,4 Prozent Stimmanteil vor ihrem Konkurrenten von der SPD.

Am Ende kann es gut sein, dass nicht nur die Neuwahl zum Abgeordnetenhaus vor Gericht entschieden werden wird. "Einige der Einspruchsführer:innen und andere Beschwerdebefugte werden gegebenenfalls nicht mit der Entscheidung zufrieden sein", sagt Awet Tesfaiesus, die für die Grünen im Wahlprüfungsausschuss sitzt. In diesen Fällen kann vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt werden. Tesfaiesus: "Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass unser höchstes Gericht sich mit dieser für alle Bürger:innen sehr wichtigen Angelegenheit auseinandersetzen wird. Auch wenn es die endgültige Entscheidung leider erneut verzögern wird."

Der neue Landeswahlleiter in Berlin bekommt ein eigenes Amt mit sieben Mitarbeitern

Tatsächlich würde eine Klage in Karlsruhe den Zeitplan für mögliche Neuwahlen komplett durcheinanderbringen. Bislang wird davon ausgegangen, dass im kommenden Frühjahr neu abgestimmt werden könnte, sowohl für das Abgeordnetenhaus wie auch für den Bundestag. Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat für den Mittwoch schon einmal "eine erste rechtliche Einschätzung" angekündigt. Ein Urteil fällt spätestens im Dezember, dann blieben 90 Tage, um Neuwahlen anzusetzen. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre voraussichtlich erst spät im nächsten Jahr zu erwarten.

Berlin hat jedenfalls schon einiges getan, damit sich ein Wahltag wie 26. September 2021 nicht wiederholt. Am 1. Oktober beginnt der Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler als neuer Landeswahlleiter in Berlin. Er wird ein eigenes Amt mit sieben Mitarbeitern bekommen; die Wahlämter in den Bezirken sollen ebenfalls ausgebaut werden. Geändert werden soll auch eine etwas kurios anmutende Vorschrift in der Landeswahlordnung. Anders als bisher ist es dann möglich, die Blanko-Stimmzettel bereits einen Tag vor einer Wahl in die Wahllokale zu bringen.

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