Süddeutsche Zeitung

Belgien:Der Verdacht genügt

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Die Sterberate im Land ist außergewöhnlich hoch. Das liegt vor allem daran, wie Belgien seine Corona-Toten zählt. Diese Praxis führt nun zu Unmut in der Politik.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel

Jeden Vormittag werden in Brüssel die neuesten Corona-Zahlen präsentiert: 266 Tote waren es am Mittwoch. Viele Menschen - doch aus Sicht der Gesundheitsbehörde war das trotzdem eine gute Nachricht: "Der Höhepunkt scheint hinter uns zu liegen", heißt es in einer Mitteilung.

Belgien, das noch früher als Deutschland mit starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens begann, liegt bei den Todesfällen in internationalen Vergleichen auf einem der vorderen Plätze, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sogar auf Platz eins weltweit. Dass es aus Belgien dennoch keine Bilder aus völlig überfüllten Krankenhäusern gibt wie aus Italien oder Spanien, liegt auch daran, dass mehr als die Hälfte der belgischen Corona-Toten in Alters- und Pflegeheimen sterben.

Im EU-Parlament mehren sich die Stimmen, die eine einheitlichere Datengrundlage fordern

Warum die Zahlen in Belgien so hoch sind, hat verschiedene Gründe. So kämpft Belgien bis heute mit einem Mangel an Schutzausrüstung; außerdem ist die Bevölkerungsdichte hoch und die Luft schlecht. Beides aber sind keine spezifisch belgischen Phänomene. Beobachter vermuten deshalb, dass ein anderer Aspekt verantwortlich sein könnte: die Art, wie Belgien seine Corona-Toten zählt.

In Belgien erscheinen nicht nur jene Toten in der Statistik, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Sondern auch all jene, bei denen lediglich ein Verdacht besteht, es könne einen Zusammenhang mit dem Virus geben. So waren von den 178 Heimbewohnern, die am Mittwoch neu in der Statistik auftauchten, lediglich 13 Prozent Corona-positiv. Der Rest wurde nicht getestet, aber trotzdem mitgezählt. Manche, weil sie Symptome hatten, die zu Corona passen könnten. Andere aber auch nur deshalb, weil in ihrer Einrichtung vorher ein anderer an dem Virus gestorben war. Wie viele Corona-Tote es in Belgien also tatsächlich gibt, weiß derzeit niemand - auch wenn in den Heimen nun flächendeckende Tests begonnen haben.

In Belgien ist über die Frage der Zählung ein Streit entbrannt. Premierministerin Sophie Wilmès bleibt bislang bei ihrer Erklärung, die belgische Art zu zählen sei schlicht transparenter. Kritik kommt etwa von der flämischen Tourismusministerin Zuhal Demir: Die hohe Todesrate werfe ein schlechtes Licht auf das Land. Außerdem drohten Einbußen im Tourismus: In normalen Sommermonaten breiten an belgischen Stränden auch Deutsche, Niederländer und Franzosen ihre Handtücher aus.

Der Streit um die Zahlen hat auch das EU-Parlament erreicht. Nicht nur aus persönlicher Sorge, weil manch Abgeordneter sich nun fragt, ob Brüssel ein Risikogebiet ist. Sondern auch als Thema: Denn irgendwann sollen die Beschränkungen - etwa an den Binnengrenzen - ja auch wieder aufgehoben werden; und dafür ist die Corona-Gefahr auf beiden Seiten der Grenze eine wichtige Kenngröße. So heißt es etwa im "Fahrplan für die Aufhebung der Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19", den die EU-Kommission in der vergangenen Woche präsentierte: "Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen sollten aufgehoben werden, sobald die epidemiologische Lage in den Grenzregionen hinlänglich vergleichbar ist."

Unterschiedliche Zählweisen könnten zu "politischen Missverständnissen" führen, warnt ein Abgeordneter

Das wirft auch anderswo Fragen auf. So erwägt Österreich auch deshalb, deutsche Touristen bald wieder einreisen zu lassen, weil Deutschland auf einem guten Weg sei, das Virus einzudämmen. Dabei ist die Todesrate dort ja auch deswegen so niedrig, weil deutlich mehr getestet wird, die Dunkelziffer also niedriger sein dürfte als in anderen Ländern.

Darum mehren sich nun auch im EU-Parlament die Stimmen, die eine einheitlichere Datengrundlage für die Statistik fordern. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Pascal Canfin, (La République En Marche) warnte, unterschiedliche Zählweisen könnten zu "politischen Missverständnissen" führen; sein FDP-Kollege Andreas Glück sagt: "Wir brauchen Vergleichbarkeit, deshalb brauchen wir eine gemeinsame Datenerhebung."

Die EU-Kommission verweist auf bestehende Empfehlungen des Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Gemeinsame Standards bei der Zählung würden es erleichtern, die Situation in Europa einzuschätzen. Letztlich sei das aber Sache der Mitgliedstaaten. Die grüne Abgeordnete Jutta Paulus lobt das ECDC zwar für seine "wichtigen Empfehlungen" zu Vorbeugung, Behandlung und Schutzmaßnahmen. "Die Zählweise der Infizierten und Verstorbenen wird leider noch nicht adressiert."

Für den CDU-Abgeordneten Peter Liese ist die Debatte ein weiteres Argument dafür, nach der Krise die Verteilung der Kompetenzen zu überprüfen. "Wir brauchen in dieser Krise ein gemeinsames Vorgehen, und eine gemeinsame Zählweise gehört unbedingt dazu."

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SZ vom 23.04.2020
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