Süddeutsche Zeitung

Belarus:Raus aus Belarus

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Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja wendet sich nach der Wahl mit emotionalen Worten an ihre Anhänger. Sie ist nach Litauen geflohen.

Von Silke Bigalke, Moskau

Der Druck auf Swetlana Tichanowskaja wurde einfach zu groß. Sie hat keinen Ausweg gesehen als Belarus zu verlassen. Zwei Videos machen das deutlich. Das erste hat sie aus freien Stücken aufgenommen, da war sie bereits in Litauen. Sie spricht offenbar in ihre Handykamera, erklärt ihren Anhängern, wie schwer ihr die Entscheidung gefallen sei. "Leute, passt bitte auf euch auf", sagt sie. "Kein Leben ist wert, was jetzt passiert." Und dann sagt sie noch, dass Kinder das Wichtigste im Leben seien. Ihre beiden minderjährigen Kinder hat sie längst in Sicherheit gebracht, sie sollen bei ihr in Litauen sein. Das zweite Video wirkt so, als sei sie dazu gedrängt worden. Sie liest den Text vom Blatt ab. "Ich, Swetlana Tichanowskaja, danke Ihnen für die Teilnahme an den Wahlen des Staatsoberhauptes." Sie schaut nicht in die Kamera, als sie ihre Anhänger mit gedämpfter Stimme dazu aufruft, sich ans Gesetz zu halten, sich der Polizei nicht zu widersetzen, nicht auf die Straße zu gehen. Das Sofa, auf dem sie sitzt, die Jalousie im Hintergrund, lassen durch Fotovergleiche erkennen, wo das Video aufgenommen wurde: in der Wahlbehörde in Minsk. Kurz vorher hatte Tichanowskaja während einer Pressekonferenz erklärt, sie werde in Belarus bleiben: "Ich bin mit dem Volk, ich bin nirgendwo hingegangen." Ihre Ausreise wird kaum etwas ändern. Die Proteste werden weitergehen. Für ihre Anhänger war sie ohnehin stets mehr ein Symbol für den Wandel als eine politische Anführerin. Tichanowskaja war von Anfang an eher zurückhaltend, hatte ihre Anhänger schon in der Nacht nach der gefälschten Wahl gemahnt, friedlich zu bleiben und keine Gesetze zu brechen. Bei einer Verhaftung hätten ihr womöglich dennoch mehrere Jahre Gefängnis wegen Anstiftung zu Massenunruhen gedroht. Sie kannte das Risiko, als sie sich für die Wahl registrieren ließ. Ihr Mann, der eigentlich kandidieren wollte, wurde nicht zugelassen und später festgenommen. Sie sprang für ihn ein, nicht um als Präsidentin selbst zu regieren. Sondern weil die Leute eine echte Wahl haben sollten. Sie durfte als einzige unabhängige Oppositionelle kandidieren, vermutlich hatte das Regime sie unterschätzt. Sie habe gedacht, die Kampagne habe ihr so viel Kraft gegeben, dass sie alles ertragen könne, sagte Tichanowskaja nun. "Aber wahrscheinlich bin ich die schwache Frau geblieben, die ich ursprünglich war." Eine Frau, die vielen Belarussen Hoffnung auf Wandel gegeben hat.

An dieser Hoffnung halten sie sich nun fest. Auch am Montagabend gingen wieder Tausende auf die Straßen. 5000 sind seit Sonntag bereits festgenommen worden, niemand weiß unter welchen Bedingungen sie seither ausharren müssen. Ein Video tauchte in sozialen Netzwerken auf, das Festgenommene in einem abgesperrten Hof zeigte, sie lagen auf der Erde, das Gesicht nach unten. Die Bilder sollen aus Minsk stammen. Am Montagabend sammelten sich die Leute an verschiedenen Orten der Hauptstadt. Manche errichteten Barrikaden aus Müllcontainern und Europaletten auf der Straße. Es gab einen Toten. Als Menschen Blumen an der Stelle ablegten, wo er tödlich verletzt wurde, trieben Polizisten sie sofort auseinander. Während ihre Anhänger sich versammelten, galt Tichanowskaja für Stunden als verschwunden. Nach einem Termin bei der Zentralen Wahlkommission war sie nicht wieder aufgetaucht, auch ihr Stab konnte sie nicht erreichen. Sie hatte bei der Kommission Beschwerde gegen das Wahlergebnis einlegen wollen. Sie halte sich für die Wahlsiegerin, hatte Tichanowskaja erklärt, wollte Beweise für Manipulationen vorlegen und neu abstimmen lassen. Ihre Vertraute Olga Kowalkowa sagt, sie sei nicht freiwillig nach Litauen gegangen. "Wichtig ist, dass sie in Freiheit und am Leben ist." Offenbar war ihre Ausreise auch Bedingung dafür, dass ihre Stabschefin Maria Moroz frei kam. Sie ist nun gemeinsam mit Tichanowskaja in Litauen. Mehrere andere Mitstreiter sitzen aber weiterhin in Haft. "Wir haben jetzt zwei Aufgaben: unsere Wahl verteidigen und das Blutvergießen stoppen", sagte Kowalkowa. Litauens Außenminister Linas Linkevičius war es, der Tichanowskajas Ausreise als erster meldete. Er hatte zuvor Sorge über ihre Sicherheit geäußert, weil er sie stundenlang nicht erreichen konnte. Offenbar hatte er ihr seine Hilfe angeboten. Die Wahl im Nachbarland hatte Linkevičius zuvor als undemokratisch kritisiert. Die Repressionen gegen Aktivisten, friedliche Protestler und Journalisten seien "absolut unfassbar". Er sagte später bei einer Pressekonferenz, Tichanowskaja habe ein litauischen Visum und könne damit zunächst ein Jahr im Land bleiben. Die EU will ihre Beziehungen zu Belarus nun überprüfen. Schritte gegen die Verantwortlichen und Regierungsbeamte würden erwogen, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag. Minsk wies dies zurück. Das Ausland solle die Instabilität in der Gesellschaft nicht weiter anstacheln. Die oppositionellen Kräfte denken nun darüber nach, wie sie sich neu organisieren können. Sie wollen ein "Komitee zur Staatsrettung" gründen, sagte der Oppositionelle Walerij Zepkalo, der selbst zur Wahl antreten wollte, nicht zugelassen wurde und mit seinen Kindern ins Ausland floh, einer russischen Nachrichtenagentur.

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SZ vom 12.08.2020
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