Süddeutsche Zeitung

Balkan:Staat ohne Bürger

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Bosnien-Herzegowina wählt zum achten Mal seit Ende der Balkankriege. Doch noch immer lähmt die ethnische Spaltung das Land - die Jugend wandert deshalb ab.

Von Peter Münch, Sarajewo/Banja Luka

Adi Operta ist 27 Jahre alt, er ist Geograf kurz vor dem Diplom und Optimist aus Überzeugung. Optimisten sind eher selten zu finden in Bosnien, und das nicht nur, weil sich auf dem Balkan der Pessimismus aus Erfahrung speist. Adi Operta ist ein einsamer Optimist, weil die meisten anderen seiner Art längst weg sind. In Deutschland oder in Schweden, in Dubai oder in Amerika. "Das System treibt einen raus aus diesem Land", sagt er. "Aber ich hoffe, dass am Sonntag etwas Riesiges passiert."

Am Sonntag sind Wahlen in Bosnien-Herzegowina, und es gibt im ganzen Land kaum eine Reklamewand oder einen Laternenpfahl, an dem nicht das Konterfei eines Kandidaten hängt. Die rund 3,3 Millionen Stimmberechtigten haben die Auswahl zwischen 53 Parteien, 36 Koalitionen und 34 unabhängigen Kandidaten. Gewählt wird in diesem zerklüfteten Staatsgebilde auf allen Ebenen: Im Gesamtstaat geht es um die Mitglieder der dreiköpfigen Präsidentschaft und des Parlaments. Dazu kommen die jeweiligen Präsidenten und Volksvertreter in der bosnisch-kroatischen Föderation und in der Republika Sprska, also in den beiden sogenannten Entitäten, in die Bosnien nach ethnischen Kriterien geteilt ist. Und außerdem sind noch die Parlamente in den zehn Kantonen der Föderation neu zu bestimmen.

Ein riesiger Aufwand sind diese achten Nachkriegswahlen, überwacht von Tausenden internationalen Beobachtern. Doch dass sich etwas ändert an der Dominanz der nationalistischen Parteien aller drei Volksgruppen, darauf setzt kaum einer im Land. 86 Prozent der Bosnier glauben, dass sich ihr Land in die falsche Richtung bewegt.

Allein seit der letzten Wahl vor vier Jahren haben 150 000 Bosnier das Land verlassen

Die Älteren müssen das ertragen, so wie sie in den Neunzigerjahren den Zusammenbruch aller Gewissheiten ertragen haben, den Zerfall Jugoslawiens und den Krieg mit mehr als 100 000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen. Die Jungen jedoch suchen nach Wegen, um dem langen Schatten dieses Krieges zu entkommen - sie verlassen ihre Heimat. Schätzungsweise 150 000 Bosnier haben allein seit der letzten Wahl vor vier Jahren ihrem Land den Rücken gekehrt.

Adi Operta aber, der junge Muslim aus Sarajevo, ist geblieben. So wie auch Tamara Saražić, die serbische Medizinstudentin aus Banja Luka. Auf diesen Kriegskindern, die in glücklicheren Ländern Millennials heißen, lastet die Verantwortung für die Zukunft ihres Landes. Dabei haben sie eigentlich genug damit zu tun, sich in der rauen Gegenwart zurechtzufinden.

"Als Geograf kann man in Bosnien keine Arbeit finden", sagt Operta. "Von den Freunden und Kommilitonen sehe ich die meisten nur noch im Sommer, wenn sie auf Besuch zu ihren Familien kommen." Herausgetrieben aus ihrem Land hat sie die Jugendarbeitslosigkeit, die laut Weltbank bei 67,5 Prozent liegt. Operta schlägt sich durch mit Gelegenheitsjobs, führt Touristen durch die pittoreske Altstadt. Was ihn hier hält? "Die Liebe zu dieser Stadt", sagt er. "Das ist mein Problem."

Dabei wüsste er, was er tun muss, um voranzukommen in diesem Land: "Ich müsste einer Partei beitreten und Teil dieses schmutzigen Systems werden", erklärt Operta. Die Regierenden nämlich, allen voran die seit Kriegstagen bei den muslimischen Bosniern dominierende Partei der demokratischen Aktion (SDA), verteilen Jobs und Pfründen, um sich das Wahlvolk gewogen zu halten. "Aber das ist nichts für mich", sagt Operta. Er will seine Stimme am Sonntag einer kleinen multiethnischen Gruppierung namens Naša Stranka geben, zu Deutsch: Unsere Partei. Mehrheitsfähig ist die noch lange nicht. "Aber irgendwann muss sich hier ja etwas verändern", sagt der Optimist aus Sarajevo, "wenn nicht heute, dann in zehn Jahren."

Auf Veränderung hofft auch Tamara Saražić, die 250 Kilometer entfernt von Sarajevo jenseits einer unsichtbaren Grenze in Banja Luka lebt, der Hauptstadt der Republika Srpska. 25 Jahre ist sie alt, im Medizinstudium weit fortgeschritten, und zumindest um einen Job wird sie sich keine großen Sorgen machen müssen. Ärzte werden gebraucht in Bosnien, auch, weil so viele Ärzte mittlerweile woanders ihr Geld verdienen. "Einer muss hier für drei arbeiten", sagt sie - und das für 1500 bosnische Marka im Monat, umgerechnet 750 Euro. Immerhin ist das fast doppelt so viel wie der Durchschnittslohn. "Aber die Löhne hier sind eine Schande", meint Tamara Saražić.

Genau wie in Sarajevo haben auch in Banja Luka viele daraus die Konsequenzen gezogen. "Die meisten meiner Freunde sind bereits weg oder suchen einen Weg, aus dem Land zu kommen", sagt sie. "Aber wenn alle wegrennen, ist das doch keine Lösung. Wir müssen selbst für eine bessere Zukunft sorgen."

Wie diese Zukunft aussehen soll, darauf geben die Führer der bosnischen Serben stets dieselbe Antwort: Während in Sarajevo die Politiker der Föderation ihren Bürgern ein besseres Leben in der Europäischen Union verheißen, irgendwann einmal, setzten sie in Banja Luka allein auf die Abspaltung der Republika Srpska aus dem Gesamtstaat und auf Hilfe aus Moskau.

Wenn man Tamara Saražić nach der Politik in Banja Luka fragt, dann fällt ihr vor allem "Stillstand" ein, und über "Korruption" klagt sie wie alle hier. Die über dem Land liegende Friedhofsruhe ist zuletzt immerhin gestört worden durch eine Protestbewegung mit dem Namen "Gerechtigkeit für David". Seit Monaten fordert eine wachsende Zahl von Demonstranten, die sich allabendlich auf dem zentralen Krajina-Platz versammelt, von der Regierung Aufklärung zum Tod des Studenten David Dragičević, der im Frühjahr übel zugerichtet in einem Abwasserkanal gefunden worden war. Die Ermittler sprachen sofort von einem Unfall, die Protestler glauben an einen Mord im politisch-kriminellen Milieu, der von der Regierung gedeckt wird.

"Ab und zu, wenn ich Zeit habe, gehe ich auch zu den Demonstrationen", sagt Tamara Saražić. Aber zur Barrikadenstürmerin taugt sie nicht. Wichtiger als der Protest ist ihr die Wahl am Sonntag. "Da müssen so viele wie möglich hingehen", sagt sie, "wir müssen Verantwortung für uns selber übernehmen." Wem sie ihre Stimme geben wird, das will sie nicht verraten. Es gilt das Wahlgeheimnis, klar, "aber ich muss ja hier auch noch länger leben", sagt sie mit einem freundlichen Lächeln.

"Kriminelle ethnische Gruppen, die sich als Parteien ausgeben", regieren Bosnien laut Esad Bajtal

Zurück nach Sarajewo, zu einem grauhaarigen Herrn von 69 Jahren, der schon viele Umbrüche und viele Wahlen erlebt hat in diesem Land - und der nun mit wenig Verwunderung auf die langen Schlangen vor den ausländischen Botschaften blickt. "Alle wollen weg", sagt Esad Bajtal, "die können den physischen Druck, diese Atmosphäre der nationalistischen Spannung nicht mehr aushalten." Bajtal ist Philosoph, ein kluger Beobachter der politischen Vorgänge, und im eigenen Land ist er zum Fremden geworden. "Ich fühle mich als Bürger Bosniens", sagt er, "nicht als muslimischer Bosnier oder als Kroate oder Serbe - und damit bin ich hier nichts, nur noch Abfall."

Bosnien ist für ihn "ein Staat, den es gar nicht gibt". Erschaffen von der internationalen Gemeinschaft im Friedensvertrag von Dayton anno 1995 "mit einer kaputten Maschine". Regiert von "kriminellen ethnischen Gruppen, die sich als Parteien ausgeben". Er verlangt ein "Dayton 2", eine neue internationale Initiative, die Bosnien neu erschafft ohne die damals zementierte ethnische Teilung. "Die demokratischen Staaten haben uns etwas sehr Undemokratisches gegeben", klagt er. "Und jetzt helfen sie uns nicht, demokratisch zu werden."

Dafür, dass Bosnien ein ganz normaler Staat wird ohne die komplizierten, dysfunktionalen Strukturen, kämpft Bajtal schon seit dem Friedensschluss vor fast einem Vierteljahrhundert. "Damals dachte ich, dass die Auseinandersetzung beendet ist und wir etwas Besseres schaffen", sagt er. "Heute habe ich den Glauben daran verloren." Aufgeben will er nicht, das betont er immer wieder. "Ich bleibe hier und kämpfe weiter", erklärt er bestimmt, "das ist meine Sisyphos-Logik."

Aber Esad Bajtal hat eine Frau und einen kleinen Sohn, fünf Jahre ist er alt. Für ihn sieht er keine Zukunft in Bosnien. "Ich tue alles, um die beiden von hier wegzubringen", sagt er. "Wenigstens sie sollen ein normales Leben führen können."

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SZ vom 06.10.2018
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