Süddeutsche Zeitung

Ausschreitungen in Port Said:In Ägypten wächst die Anarchie

Lesezeit: 2 min

In Ägypten verlieren die jahrzehntelang gegängelten Menschen ihre Angst, ohne an politischem Einfluss zu gewinnen. Der Volkszorn, der während des Aufruhrs gegen Mubarak gebündelt war, zersplittert in Dutzende anarchistische Taten - wie die massiven Ausschreitungen im Fußballstadion von Port Said. Für das Land ist das ein Albtraum.

Sonja Zekri, Kairo

Am Montag überfielen Bewaffnete eine Filiale der britischen HSBC-Bank im Kairoer Stadtteil Heliopolis. Am Dienstag raubten Unbekannte eine Post im Süden der Hauptstadt aus. Am Mittwoch traf es ein Geldtransferunternehmen im Osten Kairos. Bei einer Schießerei in einer Wechselstube im Basar der Touristenhochburg Scharm el-Scheich starb ein französischer Tourist.

Auf dem Sinai entführten Beduinen 25 chinesische Arbeiter, um Angehörige aus dem Gefängnis freizupressen, ließen die Chinesen aber kurz darauf laufen. In der Delta-Stadt Scharkija erschossen Ex-Sträflinge einen Rikscha-Fahrer, wurden daraufhin von einem Lynchmob erschlagen und an Laternenpfählen aufgehängt.

Für andere Länder - Amerika beispielsweise, Russland oder Südafrika - wäre dies eine gewöhnliche, vielleicht etwas raue Woche. Für Ägypten ist es ein Albtraum. Jahrzehnte litt das Land unter staatlicher Repression. Schläge in der Schule und zu Hause sind bis heute verbreitet. Aber spektakuläre Gewaltverbrechen kannte das Land kaum.

Auch diese Regel hat die Revolution auf den Kopf gestellt. Die Kriminalität ist in den Augen vieler Menschen so drastisch gestiegen, dass viele sich nach einer Rückkehr der Polizei sehnen, obwohl diese unter Mubarak ein Synonym für Folter und Willkür war, nach dem Sturz des Autokraten von der Bildfläche verschwand und sich - aus Angst vor juristischen Folgen im Falle eines Eingreifens - über Monate nicht blicken ließ.

Staus nahmen unerträglich zu, immer mehr Menschen besorgten sich illegal Waffen, während subventionierte Lebensmittel fehlen. Die neue Regierung von Ministerpräsident Kamal al-Gansuri schickte einen Teil der Polizeibeamten zurück auf die Straßen. Die Tragödie von Port Said verhinderten sie nicht.

Es sei doch seltsam, spottete Hussein Mohamed Ibrahim, Abgeordneter der Muslimbrüder-Partei "Freiheit und Gerechtigkeit", dass es erst dann zu den Entführungen, Straßensperren und Morden gekommen sei, nachdem die Abgeordneten die Notstandsgesetze vollständig aufgehoben hatten.

Zersplitterter Volkszorn

Ägyptens regierender Militärrat hatte kurz vor dem Jahrestag der Revolution am 25. Januar den jahrzehntelangen Ausnahmezustand beendet - allerdings nicht für Fälle von "Schlägertum". Nun vermuten viele ein Komplott.

Andererseits ist es nicht das erste Mal, dass sich Ägyptens Sicherheitskräfte - wie in Port Said - im Konfliktfall als erste in Sicherheit bringen. Neben allen politischen Folgen, die die Tragödie im Stadion wahrscheinlich haben wird, zeigt der Fall, wie lückenhaft der Zugriff der Polizei noch immer ist.

Mehr noch: In Oberägypten blockierten Menschen die Gleise, um gegen eine ihrer Ansicht nach gefälschte Wahl zu protestieren. In der Küstenstadt Damietta bestreikten Anwohner eine Chemiefabrik, weil sie Umweltschäden befürchten. In Dabaa am Meer plünderten sie ein Kernkraftwerk - der Volkszorn, der während des Aufruhrs gegen Mubarak vor einem Jahr mit so unwiderstehlicher Klarheit gebündelt war, ist in Dutzende anarchischer Aufwallungen zersplittert.

Und nicht nur Ägypten erfährt, was es heißt, wenn die jahrzehntelang gegängelten Menschen ihre Angst verlieren, ohne gleichzeitig an politischem Einfluss zu gewinnen. Schutzlos fühlen sich viele Menschen der Region nach wie vor. Aber sie bleiben nicht länger tatenlos.

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SZ vom 03.02.2012
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