Süddeutsche Zeitung

Algerien:Sieg für "den Auserwählten"

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Von Paul-Anton Krüger, München

In Algerien ist nach Angaben der Wahlbehörde der frühere Premierminister Abdelmadjid Tebboune mit 58,15 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt worden. Der 74-Jährige galt als Favorit der Militärführung um Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah - in sozialen Medien nannten ihn Aktivisten deswegen "den Auserwählten". Laut der Wahlbehörde lag die Beteiligung bei 39,83 Prozent, die im Ausland abstimmenden Algerier mitgerechnet. Unabhängige Beobachter waren nicht zugelassen, Aktivisten sprachen von Fälschung. In einigen erstürmten Wahllokalen hätten sich bereits gefüllte Urnen befunden.

Dagegen sagte der Präsident der Wahlbehörde, Mohamed Charfi, die Abstimmung sei in einer "feierlichen Atmosphäre" verlaufen, wie es sie seit der Unabhängigkeit von Frankreich nicht mehr gegeben habe. Die Staatsmedien hoben die "hohe Beteiligung" hervor - eine Rechtfertigung, dass die Wahl trotz anhaltender Massenproteste abgehalten wurde. Tatsächlich war es die niedrigste seit der Unabhängigkeit Algeriens; bei früheren Präsidentenwahlen hatten offiziellen Zahlen nach 50 bis 75 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.

In seiner ersten Ansprache kündigte Tebboune Beratungen über eine neue Verfassung an. Er wolle einen "ernsthaften Dialog" mit der Opposition beginnen und eine "neue Seite" für Algerien aufschlagen.

Es ist nicht abzusehen, dass die Proteste abflauen werden

Es ist aber nicht abzusehen, dass sich die Demonstranten mit dem Wahlergebnis abfinden. Sie verlangen eine grundlegende Reform des politischen Systems, um den Einfluss des Militärs zurückzudrängen und der Korruption ein Ende zu setzen. Zehntausende waren bereits am Wahltag trotz massiver Polizeipräsenz auf die Straße gegangen, sie skandierten: "Keine Wahlen! Wir wollen Freiheit!" Vereinzelt drangen sie in Wahllokale ein, warfen Urnen und Wahlzettel auf die Straße. Andere vollzogen die Stimmabgabe demonstrativ am Mülleimer.

In Algier versuchte die Polizei, die Menge mit Schlagstöcken und Wasserwerfern auseinanderzutreiben, wich aber zurück, als sich immer mehr Demonstranten versammelten. In der mehrheitlich von Berbern bewohnten Kabylei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Region war zudem Ausgangspunkt und neben Algier eines der Zentren der landesweiten Proteste, die im Februar begonnen hatten.

Auch am Freitag gingen Zehntausende auf die Straßen und wandten sich gegen das Wahlergebnis. Sie sehen es als Versuch einer undurchsichtigen Elite aus Offizieren, Politikern und Geschäftsleuten, das alte System zu retten, das die Algerier halb furchtsam und halb verächtlich le pouvoir nennen, die Macht. Sie nehmen Tebboune seine Äußerungen nicht ab, er wolle "Politik und Geld trennen" und sei unabhängig vom Militär.

Tebboune hatte etwa darauf verwiesen, dass sein Sohn derzeit wegen Geldwäsche in Zusammenhang mit einem spektakulären Fall von Kokain-Schmuggel in Untersuchungshaft sitze. Auch rief er in Erinnerung, dass er 2017 nach weniger als drei Monaten als Premier vom damaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika geschasst worden war. Dessen Rückzug aus der Politik hatten die Demonstranten im April erzwungen.

Tebboune hatte sich damals mit dem mächtigen Industriellen Ali Haddad angelegt, der den wichtigsten Unternehmerverband FCE leitete und eng mit Bouteflikas Bruder Saïd verbunden war; beide sind wegen Korruption in Haft. Tebboune galt als Vertreter der Technokraten-Elite, die von Bouteflikas Entourage zu Gunsten loyaler Geschäftsleute zurückgedrängt wurde. Tebboune hatte Bouteflika jedoch zuvor in verschiedenen Regierungen als Minister für Wohnungsbau gedient und dabei auch das Programm für den Bau billiger Sozialwohnungen verantwortet. Die schlechten Lebensbedingungen vor allem in den Vorstädten gehören zu den zentralen Kritikpunkten der Demonstranten. Auch war Tebboune verantwortlich für den Bau der größten Moschee der Welt, ein Prestigeobjekt, das von Korruptionsvorwürfen umwittert war.

Tebboune wird die Protestierenden auch nicht mit sozialen Wohltaten beschwichtigen können. Die Öl und Gaseinnahmen, die 95 Prozent des Staatshaushaltes ausmachen, sind in diesem Jahr um 12,5 Prozent eingebrochen, das Budget für 2020 musste um zehn Prozent gekürzt werden. Algerien hat aus diesen Einnahmen über Jahrzehnte einen Wohlfahrtsstaat finanziert. Angesichts des Bevölkerungswachstums und der gesunkenen Öl- und Gaspreise ist dieses Modell jedoch nicht mehr aufrecht zu erhalten; das Land hat inzwischen die Hälfte seiner Devisenreserven aufgebraucht.

Offen ist, wie sich das Militär verhält, wenn die Proteste anhalten. Armeechef Gaïd Salah hat von einer "neuen Phase" gesprochen, in der die "berechtigten Forderungen der Algerier" nach einem Leben in Würde erfüllt würden. Das verstehen viele der Aktivisten weniger als Versprechen denn als Warnung, die Proteste zu beenden. Der 79 Jahre alte General hatte die Wahlen zuvor schon als einzigen Weg bezeichnet, um Algeriens Stabilität zu wahren.

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Quelle:
SZ vom 14.12.2019
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