Süddeutsche Zeitung

Aids-Problem in Russland:Infiziert und ignoriert

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Die Aids-Ansteckungsrate in Russland ist eine der höchsten der Welt - doch die Behörden verdrängen das Problem.

Sonja Zekri

Sie trauen sich nicht, Spritzen auszugeben, auch wenn dies die Junkies vielleicht vor Aids schützt. "Man hat uns gesagt, es gebe da einen entsprechenden Paragraphen", sagt Inna Wyschemirskaja von der Nichtregierungsorganisation Yla in Kaliningrad: "Wir wollten nichts riskieren." Also verteilt sie Kondome, hilft bei der Suche nach Therapieplätzen und wehrt sich gegen "administrative" Lösungen. "Kürzlich wurde eine wilde Siedlung plattgemacht, in der viele Drogenabhängige lebten", sagt sie: "Aber diese Menschen sind trotzdem noch da."

Yla ist eine von Dutzenden Organisationen auf einer Aids-Konferenz, die noch bis Freitag in Moskau tagt. 2500 Teilnehmer aus 60 Ländern sind gekommen, es entspricht der Dimension des Problems. Russland hat - zusammen mit der Ukraine - eine der höchste Ansteckungsraten der Welt. Knapp eine Million Menschen sind mit dem HI-Virus infiziert, knapp die Hälfte ist offiziell registriert. Die Zuwachsrate ist von elf Prozent im Jahr 2006 auf 13 Prozent 2008 gestiegen. "Die Entwicklung hat ihre Spitze noch gar nicht erreicht", sagt Robin Gorna, Direktorin der International Aids Society.

So einig sich russische und internationale Experten in der Beschreibung des russischen Aids-Problems sind, so weit liegen ihre Ansichten über die Behandlung auseinander. Ersatzdrogen wie Methadon beispielsweise, die in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Kanada, aber auch in Nachbarländern wie Kirgistan oder der Ukraine erfolgreich an Heroin-Abhängige verabreicht werden, sind in Russland verboten. Es fehle der "Beweis" einer positiven Wirkung von Methadon, sagt Gennadij Onischtschenko, Russlands oberster Arzt, auf der Konferenz. Methadon mache noch abhängiger als Heroin, Entzugserscheinungen könne man auch anders therapieren, der "freie Verkehr" einer weiteren Droge sei "hochgefährlich".

Letzteres ist nach Ansicht der Nichtregierungsorganisationen der eigentliche Grund: "Viele staatliche Anti-Drogenexperten gestehen ein, dass sie einen neuen Markt für Methadon fürchten", sagt Inna Wyschemirskaja. Ihr Kollege Albert Saripow formuliert es drastischer: "Damit gibt Onischtschenko zu, dass die Gesundheitsbehörden korrupt sind."

Zudem stehle sich Russland aus der Verantwortung, klagen andere. Jahrelang habe der Global Aids Fund erfolgreiche Basisarbeit in den Regionen unterstützt. 37000 Aids-Neuinfektionen seien so verhindert worden, rechnet das Eurasian Harm Reduction Network vor. Nun aber zieht sich der Global Fund zurück, um Russland, wie Moskau es im Jahr 2006 auf dem G-8-Gipfel in Sankt Petersburg versprochen hatte, die Finanzierung zu übergeben. Davon aber will Moskau nun nichts mehr wissen. Mitarbeiter müssten entlassen werden, Büros stünden leer, sagen Kritiker. 30 Nichtregierungsorganisationen und 200 weitere Gruppen drohe das Ende, mehr noch, "lebenswichtige Programme" gingen ein.

Wahrscheinlich ist die russische Zivilgesellschaft nirgends so stark wie im Engagement gegen Aids, aber für die staatlichen Kontrollstellen sind unabhängige Projekte noch immer verdächtig. Auch die Zukunft eines dreijährigen nationalen Gesundheitsprojektes gegen Aids ist ungewiss. Zwar sagte Larissa Schoigu, Mitglied des parlamentarischen Gesundheitsausschusses laut Interfax, das Programm solle sogar erhöht werden und in den nächsten beiden Jahren mit 440 Millionen Euro fortgeführt werden. Ein hochrangiger Antidrogenbeamter aber erklärte, im Budget sei eine Fortsetzung noch nicht festgeschrieben.

Das Randgruppen-Problem Aids

Aids gilt in Russland als Randgruppen-Problem. Die Aufklärung ist dürftig, die Ausgrenzung groß. Krankenhäuser sollen sich geweigert haben, Infizierte aufzunehmen. Auf dem Land kann Aids den sozialen Untergang bedeuten. Drei Viertel der Infizierten sind Drogenabhängige, und ihre Zahl hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Bereits vor einem Jahr hatte Wiktor Iwanow, der Chef der Antidrogenbehörde gewarnt, Russland sei der weltgrößte Konsument von afghanischem Heroin. Am Mittwoch sprach er von 1,5 bis zwei Millionen Heroinabhängigen, "eine erschütternde Zahl". Tonne um Tonne schwappe aus den Küchen der Taliban über die Grenzen Zentralasiens nach Norden. Vor allem in den wohlhabenden Metropolen, in Moskau, Sankt Petersburg, aber auch in Öl- und Gaszentren Westsibiriens wie Chantymansisk oder Jamal, breite sich die Drogensucht aus, sagt Iwanow. Allerdings sei der Preis für eine Dosis in Moskau von 1500 auf 3000 Rubel gestiegen, was auf geringeren Nachschub zurückgehe und ein Erfolg seiner Behörde sei.

Afghanisches Heroin hält er für ein internationales Sicherheitsrisiko. "Nehmen Sie Usbekistan: Die islamistische Hisb-u-Tahrir finanziert sich über Drogengelder". Das sei eine "Massenvernichtungswaffe" gegen die Jugend, ein Fall für den UN-Sicherheitsrat, zumindest aber für eine engere Kooperation mit Amerika. Mitte November will Moskau einen Plan für den Krieg gegen den Drogenhandel vorlegen. Allein mit polizeilichen Mitteln aber sei der Kampf gegen die Sucht nicht zu gewinnen.

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Quelle:
SZ vom 29.10.2009
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