Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Eine Feuerpause ist noch kein Frieden

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Das Land erlebt ein relativ ruhiges Opferfest, doch viele Menschen befürchten, dass es so nicht bleiben wird.

Von Tobias Matern, München

Es ist einigermaßen ruhig geblieben. Die afghanischen Taliban und die Regierung in Kabul hatten sich auf eine dreitätige Waffenruhe während des islamischen Opferfestes verständigt - von Freitag bis einschließlich Sonntag. Fast bis zum Ende der Feuerpause vermeldeten die Behörden keine Vorfälle, bis bei einem Bombenanschlag auf ein Gefängnis in der ostafghanischen Stadt Jalalabad drei Menschen ums Leben kamen. Dutzende Gefangene konnten fliehen. Allerdings waren es nicht die Taliban, sondern die Terrormiliz IS, der den Anschlag für sich reklamierte. Ist das weitgehend gewaltfreie Opferfest ein Fingerzeig, dass nach fast 20 Jahren Krieg unter westlicher Beteiligung in Afghanistan bald Frieden einkehren kann - zumindest zwischen der Regierung und den Taliban? Die Skepsis überwiegt. Bevölkerung und Regierung hätten sich über die Waffenruhe gefreut, sagt ein Bewohner Kabuls, "aber sie wissen, dass ab morgen die landesweiten Attacken weitergehen". Zwar bemühte sich die Regierung im Umgang mit den Taliban um eine weitere Geste des guten Willens und entließ am Wochenende mehr als 300 Kämpfer aus der Gefangenschaft. Damit seien in den vergangenen Monaten 4917 Taliban in Freiheit gekommen, teilten die Behörden mit. Und mehr sollten folgen, kündigte Präsident Aschraf Ghani an.

Doch die Islamisten stellen weitere Forderungen. Auf bis zu 5000 Haftentlassungen hatten sich die USA und die Taliban Ende Februar geeinigt, als sie ein bilaterales Abkommen ohne Beteiligung der afghanischen Regierung schlossen. Taktisch geschickt haben sich die Taliban in diesem Deal auch ein Abzugsdatum der westlichen Truppen ausverhandelt: Im April 2021 sollen demnach die verbliebenen ausländischen Soldaten das Land verlassen - wenn Bedingungen erfüllt sind. Das setzt die Regierung Ghani bei ihren innerafghanischen Friedensgesprächen mit den Taliban unter Erfolgsdruck. Die Verhandlungen haben noch nicht begonnen, aber in Kabul verdichten sich immerhin die Hinweise, dass es bald soweit sein könnte. Doch Analysten sind skeptisch, dass es zu einem umfassenden Frieden kommt: "Es wird immer deutlicher, dass die Taliban alles daran setzen, ihre Vormachtstellung in Afghanistan wieder herzustellen", sagt etwa der renommierte Taliban-Experte Ahmed Rashid. Viele Afghanen befürchteten, dass die angepeilten Gespräche mit der Regierung nur eine "Nebelkerze" der Islamisten seien, sie in Wahrheit aber den Abzug der ausländischen Truppen aussitzen wollten.

Als Zeichen des guten Willens entlässt die Regierung Hunderte Taliban aus der Haft

Zu dieser Sicht passt, dass die Taliban trotz der Freilassung ihrer Kämpfer weitere 400 Namen aus ihren Reihen nannten, die ebenfalls aus der Haft kommen sollten. Ghani betonte, das könne er nicht im Alleingang entscheiden. Er wolle eine große Ratsversammlung einberufen, ein bei großen nationalen Fragen gern verwendetes Mittel, um sich ein Mandat aus allen Teilen Afghanistans zu holen. Das klingt wie ein Spiel auf Zeit - Zeit, die Ghani angesichts der westlichen Abzugsperspektive eigentlich nicht hat.

Tatsächlich blicken die Afghanen nervös auf die Präsidentenwahlen in den USA im November. Falls Donald Trump erneut gewinnt, sind sich die meisten Beobachter sicher, dass die US-Truppen und in ihrem Gefolge auch die anderen westlichen Soldaten im April abziehen werden, unabhängig davon, ob sich Ghani und die Taliban ausgesöhnt haben. Und welche Entscheidungen ein Wahlsieger Joe Biden in Bezug auf dem Krieg in Afghanistan treffen würde, vermag niemand vorherzusagen. Tatsächlich herrscht im Land wenig Euphorie. Optimistischere Töne kommen dieser Tage aus dem Nachbarland Pakistan. Die Feuerpause werte er als "Durchbruch", sagte Außenminister Shah Mahmood Qureshi. Afghanistan und der Westen werfen dem pakistanischen Geheimdienst vor, Einfluss auf die Taliban auszuüben und die Nachkriegsordnung mitzusteuern - Islamabad weist das empört zurück. Andererseits erklärt Pakistans Regierung immer wieder - wie nun Qureshi -, sie könne eine positive Rolle spielen. Entschlüsselt bedeutet das: Sie könne Kontakte zu den Taliban herstellen.

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SZ vom 03.08.2020
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