Süddeutsche Zeitung

Rabattaktion im Nahverkehr:Für neun Euro durchs ganze Land

Lesezeit: 5 min

Der Bundesrat stimmt zu: Von Juni an können die Deutschen per Billigticket in Bussen und Bahnen reisen. Wie kommt man an die Tickets? Und wo drohen überfüllte Züge? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Markus Balser, Berlin

Wer wissen will, ob die Deutschen überhaupt einsteigen wollen, der muss in Wuppertal nachfragen. Als Erste in Deutschland hatten die Stadtwerke dort schon am Mittwoch - noch vor dem offiziellen Beschluss - den Vorverkauf per App freigeschaltet. 1700 Tickets wurden binnen weniger Stunden verkauft. Die Erwartungen der Planer übertraf das deutlich. "So eine Zahl hatten wir nicht erwartet." Nach dem Beschluss vom Freitag im Bundesrat startet der Verkauf in der kommenden Woche bundesweit. Die Rabattaktion soll die Bürger wenigstens teilweise von den hohen Energiepreisen entlasten und dauerhaft Lust auf den Umstieg vom Auto in den ÖPNV machen. Die Süddeutsche Zeitung beantwortet die wichtigsten Fragen und Antworten zu einem der größten Experimente in der Geschichte des Nahverkehrs:

Was bieten die Tickets?

Wer einen Neun-Euro-Fahrschein kauft, kann damit in dem jeweiligen Kalendermonat mit Bussen und Bahnen im öffentlichen Nahverkehr bundesweit unbegrenzt fahren. Das heißt: Wer es in Berlin, Hamburg oder München erwirbt, kann damit auch Busse und Bahnen an Nord- und Ostsee, im Alpenvorland oder zum Bodensee nutzen. Auch Ferienausflüge ans Meer oder in die Berge sind damit möglich, wenn man dafür Nahverkehrszüge nutzt. Wer Zeit mitbringt, kann in Regionalzügen auch Strecken durchs ganze Land zurücklegen. Der Fernverkehr der Deutschen Bahn, also die ICEs, ECs, ICs und Fernbusse des Konzerns, sowie die Flix-Züge und -Busse bleiben Passagieren aber vorenthalten. Das Ticket gilt nur für die zweite Klasse.

Wo und ab wann kann man die Tickets kaufen?

Der Verkauf beginnt in den kommenden Tagen. Vom 23. Mai an wird der größte Anbieter, die Bahn, die Tickets über Webseiten, Apps, Automaten und Reisecenter verkaufen. Auch die großen Verkehrsverbünde starten mit dem Verkauf. Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen von Samstag an Tickets anbieten, die Münchner Verkehrsgesellschaft kündigte den Start für Ende Mai an. Die Tickets werden in digitaler und in Papierform angeboten. Sie gelten jeweils vom ersten Tag des Kalendermonats um 0.00 Uhr bis zum Ende des Monats, in dem sie gekauft wurden, um 24 Uhr, und verlängern sich nicht automatisch. Zu haben sein sollen allerdings laut Bahn auch Tickets für alle drei Monate auf einen Schlag.

Wie profitieren Abo-Kunden von den günstigeren Monatstarifen?

Auch wer schon ein Abo für den Nahverkehr hat, soll etwas von der Aktion haben. Nach Plänen des Bundesverkehrsministeriums sollen die Nahverkehrsunternehmen die Differenz zwischen dem Ticketpreis und dem Neun-Euro-Ticket automatisch ausgleichen. Entweder über eine Verringerung des Bankeinzugs oder über eine entsprechende Erstattung. Für Semestertickets ist eine ähnliche Lösung vorgesehen. Auch die Abo-Tickets sollen für den Zeitraum bis August bundesweit gelten. Ticketinhaber sollen von den Verkehrsverbünden automatisch benachrichtigt werden, wie die Rabattaktion verrechnet wird. Wer eine Bahn-Zeitkarte für den Nahverkehr hat, bekommt ebenfalls eine Erstattung. Zeitkarten-Abonnenten im Fernverkehr sind davon ausgenommen.

Drohen im Sommer wegen des Andrangs überfüllte Züge und Busse?

Fachleute erwarten tatsächlich einen Ansturm auf Busse und Bahnen. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) geht davon aus, dass 30 Millionen alte und neue Fahrgäste das Ticket nutzen werden. Damit würden viel mehr Passagiere einsteigen, als normalerweise in den Sommermonaten im Nahverkehr unterwegs sind. Bahn und Nahverkehrsunternehmen haben bereits signalisiert, dass nur auf ganz wenigen Strecken mehr oder längere Züge fahren können. Zusätzliche Fahrzeuge oder Personal stünden kaum zur Verfügung, heißt es.

Die größte Bahngewerkschaft EVG warnt deshalb bereits vor chaotischen Zuständen in den Sommermonaten. "Ich rechne mit Räumungen überfüllter Züge und wegen Überlastung gesperrten Bahnhöfen", sagte EVG-Chef Klaus-Dieter Hommel. Es stünden schlicht nicht genug Fahrzeuge zur Verfügung. Besonders betroffen dürften von hohen Passagierzahlen touristische Ziele sein, etwa der Bodensee, die Ostsee oder die Alpen.

Das Bundesverkehrsministerium erwartet dagegen, dass die Verkehrsbetriebe die Probleme in den Griff bekommen. Die Nutzerinnen und Nutzer der Tickets müssten aber damit rechnen, dass es punktuell zu einer starken Auslastung kommen könne, wie man sie auch aus Spitzenzeiten kenne.

Kann man Kinder kostenlos mitnehmen?

Das kommt auf das Alter des Kindes an: Kinder unter sechs Jahren fahren dem Kleingedruckten beim Neun-Euro-Ticket zufolge kostenlos mit. Kinder ab sechs Jahre brauchen dagegen ein eigenes Neun-Euro-Ticket.

Was ist beim Mitnehmen von Fahrrädern zu beachten?

Das Mitnehmen des eigenen Velos ist in dem Ticket nicht generell inbegriffen. Es gelten die "Mitnahmeregeln" der jeweiligen Verkehrsverbünde, erklärt etwa die Deutsche Bahn. Dort ist meist geregelt, dass für ein Fahrrad zusätzliche Kosten anfallen. Die Bahn warnt, dass die Mitnahme von Rädern von Juni bis August wegen der zu erwartenden vollen Züge nicht garantiert werden könne. Sie empfiehlt deshalb, lieber am Ziel Fahrräder zu leihen. An Feiertagen sollten Passagiere Reisen mit dem Rad zudem generell vermeiden.

Gilt das Ticket auch für Abruf-Angebote, wie Anruf-Sammeltaxen und Taxibusse?

Für Zusatzangebote wie Sammeltaxen, die oft auch von Verkehrsverbünden angeboten werden, gilt das Rabattticket nicht. Für solche Angebote der jeweiligen Nahverkehrsverbünde, die mit einem Zuschlag versehen sind, gilt auch weiterhin der reguläre Preis.

Was erhofft sich die Politik eigentlich von der Rabattaktion?

Vor allem auf Drängen der Grünen macht die Bundesregierung mit dem Nahverkehrsticket als Ausgleich für die Subventionierung fossiler Energien - etwa durch den günstigeren Sprit - auch den Nahverkehr billiger. So ist es im Entlastungspaket geregelt. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sieht in den günstigen Tickets aber auch einen Anreiz für die dauerhafte Nutzung von Bussen und Bahnen. Er sprach von einer Chance, den öffentlichen Personennahverkehr wieder sichtbar zu machen. Zudem helfe der erhoffte Umstieg vieler Deutscher auf den Nahverkehr, Energie zu sparen.

Warum wird das Ticket nicht gleich kostenlos angeboten?

In einigen Bundesländern hatte es den Plan tatsächlich gegeben, ganz auf Tickets zu verzichten - und damit auch auf Kontrollen. Das hätte den bürokratischen Aufwand deutlich gesenkt. Doch aus Sicht der Politik sprach einiges dagegen. Zum einen lässt sich über die neun Euro zumindest ein Teil der Kosten des Nahverkehrs finanzieren. Die Einnahmen verbleiben bei den Ländern, während der Bund die Kosten trägt. Bei zahlenden Kunden lässt sich die Nutzung zudem besser analysieren. Geplant sind deshalb auch Befragungen. Denn für die Verkehrsbetriebe und die Politik ist es eine spannende Frage, unter welchen Bedingungen die Deutschen bereit sind, häufiger auf den Nahverkehr umzusteigen.

Die Politik hofft darauf, dass die Deutschen langfristig vom Auto auf den Nahverkehr umsteigen. Kann die Rabattaktion dabei helfen?

Um die Klimaziele der Bundesregierung zu erfüllen, will die Politik die Deutschen im großen Stil zum Umsteigen bewegen. Schon im Jahr 2030 sollen doppelt so viele Menschen mit Bussen und Bahnen fahren wie heute. Ob das gelingt, ist umstritten. Fachleute fordern dauerhaft mehr Geld für den Nahverkehr. Mehrere Bundesländer warnen etwa davor, dass der Effekt des Tickets verpuffen könnte, wenn von Herbst an wegen klammer Kassen die Nahverkehrstickets teurer werden müssten. Der Bund hat zugesagt, die Kosten für das Neun-Euro-Ticket zu übernehmen: bis zu 2,5 Milliarden Euro. Die Länder erwarten jedoch zusätzliche Milliardenhilfen, etwa wegen gestiegener Energiekosten. Das lehnt Minister Wissing bislang ab. Die Nahverkehrsbranche hält es nun sogar für möglich, dass Unternehmen ihr Angebot wegen gestiegener Kosten künftig reduzieren oder die Preise anheben müssen. Beides würde dem Ziel der Regierung entgegenlaufen, die Passagierzahlen für mehr Klimaschutz bis 2030 zu verdoppeln.

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