Süddeutsche Zeitung

Verrat an Anne Frank:Der Agent und das Mädchen

Lesezeit: 3 min

Von Christian Gschwendtner, Amsterdam

Als der Anruf aus Europa kommt, sitzt Vince Pankoke am Esstisch in Florida. Er denkt an alles, nur nicht an einen neuen Fall. Warum auch? Pankoke ist Rentner. Ein ehemaliger FBI-Agent, der sich inzwischen mehr für Kreuzfahrten interessiert als für Verbrecher. Doch jetzt ist ein alter Bekannter von der Amsterdamer Polizei am Telefon. Er fragt: "Vince, kommst du zurück?"

Der niederländische Polizist erzählt von einem Fall, wie ihn Pankoke so noch nicht erlebt hat. 27 Jahre war er Undercover-Agent. Zuerst in Kolumbien, dann an der Wall Street. Er kannte seine Gegner, er musste nur einen Weg finden, sich bei ihnen einzuschleichen. Jetzt soll er einen Täter finden, der vermutlich längst tot ist.

Würde man die Akten aneinanderreihen, wären das mehr als 20 Kilometer

Es geht um den Verrat an Anne Frank: Niemand kann bis heute sagen, wie die Gestapo das jüdische Mädchen in seinem Versteck fand. In einem Amsterdamer Hinterhaus, dessen Eingang durch einen Bücherschrank verdeckt war. Sicher ist nur, dass Anne Frank am 4. August 1944 verhaftet wurde. Kurz davor schrieb sie den letzten Eintrag in ihr berühmtes Tagebuch.

"Der ultimative Cold Case", sagt Pankoke. Natürlich kennt er die Geschichte von Anne Frank auswendig. Sein Vater befreite als amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg Mittenwald von den Nazis, er hat ihm alles erzählt. Aber dass der Verrat noch immer nicht aufgeklärt ist, das hörte Pankoke zum ersten Mal in Amsterdam. Vor zwölf Jahren, als er für das FBI mit der niederländischen Polizei an einem Fall arbeitete. Der Kontakt hat bis heute gehalten.

Am Telefon zögert Pankoke trotzdem: Gibt es wirklich eine Chance, den Täter doch noch zu finden? Lohnt sich der ganze Aufwand? Er liest die alten Ermittlungsakten. Wochenlang. Er findet Fehler, entdeckt Spuren, die nicht verfolgt wurden. Dann steht sein Entschluss fest: Pankoke kommt zurück.

Am meisten überzeugt ihn die neue Strategie der Leute aus Amsterdam: Sie wollen das Anne-Frank-Geheimnis nicht mit den alten Methoden lösen, sondern mit Big Data und künstlicher Intelligenz.

Wenn man die Akten zu Anne Franks Geschichte aneinanderreiht, sind das mehr als 20 Kilometer. "Zu viel Stoff für ein paar Wissenschaftler", sagt Pankoke. Sogar für die 20 Leute, die jetzt in seinem Ermittlerteam arbeiten, Datenanalysten, Historiker und Kriminologen. Sie wollen den ganzen Aktenberg digitalisieren: Wohnungslisten, Zeugenaussagen, die Nazi-Bürokratie - alles, was irgendwie helfen könnte. Der Computer soll Verbindungen herstellen, die den Historikern entgangen sind.

Wie das genau vonstatten geht, konnte man kürzlich im niederländischen Fernsehen beobachten. Da präsentierte Pankokes Team eine Karte, die stark nach Google Maps aussieht. Sie zeigt die Amsterdamer Prinsengracht 263 - das Haus, in dem sich Anne Frank und ihre Familie zwei Jahre lang vor der Gestapo versteckten. Auffällig sind die vielen roten Punkte. Sie umzingeln das Haus. Es sind keine Restaurant-Empfehlungen, sondern Wohnungen von Mitgliedern der niederländischen Nazi-Partei. Alles mögliche Täter.

Auf der digitalen Karte sind lauter rote Punkte zu sehen - dort, wo die Nazis wohnten

Eine Spezialsoftware hat die Karte erstellt. Als Nächstes will Pankoke einen Schallwellentest durchführen. In Anne Franks Tagebuch hat er gelesen, dass die Familie im Geheimversteck oft heftig stritt. So laut, dass man den Lärm in der Nachbarschaft gehört haben muss. Bis wohin genau, will er nun herausfinden.

Pankoke selbst ist eher noch der Papiertyp. Er mag es, wenn die Akten ausgedruckt vor ihm liegen. Das aber geht schon deswegen nicht mehr, weil der Anne-Frank-Haufen immer größer wird. Täglich schreiben ihn Leute auf dem Networking-Portal Linkedin an. Sie schicken neuen Unterlagen, Notizen aus dem Familienarchiv. Auch Pankoke hat im amerikanischen Nationalarchiv neue Akten entdeckt. Sie stammen angeblich aus dem Amsterdamer Hauptquartier des Sicherheitsdiensts. "Sehr gutes Zeug", sagt Vince Pankoke.

Ob ihm das hilft, ist unsicher. Es ist noch nicht mal klar, ob Anne Frank überhaupt verraten wurde. Otto Frank, Annes Vater und einziger Überlebender der Familie, war nach seiner Rückkehr aus dem Vernichtungslager Auschwitz zwar fest davon überzeugt, den Täter gefunden zu haben. Er beschuldigte Willem van Maaren, einen Lageristen aus seiner Firma. Noch im Jahr 1963 erzählte er das einer niederländischen Zeitung. Aber das Problem ist: Es gibt bis heute keine Beweise.

Im Laufe der Zeit tauchten immer neue Namen von Verdächtigen auf - und noch mehr Theorien. Das Anne-Frank-Haus hat sie kürzlich in einer Studie untersucht. Mit dem Ergebnis, dass das Versteck genauso gut durch Zufall entdeckt worden sein könnte. Zum Beispiel bei einer Razzia, die eigentlich den illegalen Handel mit Essensmarken zum Ziel hatte.

Pankoke glaubt, dass er mit seinem Team den Fall lösen kann. Nur weigert er sich, die Erfolgschancen genau zu benennen. Wenn alles gut geht, wollen sie einen Film drehen. Die Produktionsfirma ist bereits gegründet.

Für Pankoke ist es das erste Mal, dass er unter seinem echten Namen ermittelt. Er kann jetzt endlich mit seiner Tochter über die Ermittlung reden. Pankoke schickt ihr regelmäßig Sprachnachrichten über Whatsapp, wenn er mal wieder in Amsterdam ermittelt. Was sie genau besprechen, ist geheim. Er will nicht zu viel verraten. Pankokes größte Angst ist, dass jemand anders den Fall Anne Frank vor ihm löst.

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Quelle:
SZ vom 08.11.2017
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