Süddeutsche Zeitung

Terrorismus-Anklage gegen Breivik:Schuldspruch außer Frage

Lesezeit: 3 min

Gegen den Massenmörder Anders Behring Breivik ist Anklage wegen Terrorismus erhoben worden. Das geforderte Strafmaß lässt die Anklageschrift noch offen. Noch existiert auch kein unumstrittenes psychiatrisches Gutachten des Attentäters. Vermutlich wird er nie mehr frei kommen - doch ausgeschlossen ist es nicht.

Gunnar Herrmann, Stockholm

Es ist das größte Strafverfahren in Norwegen seit Kriegsende. Doch die Verlesung der Anklage dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Anders Behring Breivik soll ruhig und gefasst gewesen sein, als ein Polizist ihm am Mittwoch im Gefängnis mit der Schrift konfrontierte, in der ihm zwei Terroranschläge zur Last gelegt werden. Eine Strafe fordern die Ankläger darin nicht - vorerst zumindest. Denn ein erstes psychiatrisches Gutachten hatte Breivik für unzurechnungsfähig erklärt. Sollte ein zweites Gutachten zu einem anderen Schluss kommen, drohen dem geständigen Mann 21 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Die inzwischen veröffentlichte Anklageschrift ist eine schreckliche Lektüre. Die Staatsanwälte Svein Holden und Inga Bejer Engh beschreiben dort noch einmal mit vielen Einzelheiten die dramatischen Stunden vom Nachmittag des 22. Juli 2011: Acht Menschen starben bei dem Sprengstoffanschlag, mit dem Breivik das Osloer Regierungsviertel verwüstete. Beim Sommerlager des sozialdemokratischen Jugendverbandes auf der Insel Utøya tötete er anschließend 69 Opfer. 67 von ihnen starben durch die Kugeln aus Breiviks halbautomatischem Gewehr oder seiner Pistole. Zwei ertranken oder stürzten zu Tode, als sie vor dem Mörder flohen.

Nur elf der Mordopfer auf Utøya waren Staatsanwältin Engh zufolge älter als 20 Jahre. Insgesamt wollen die Staatsanwälte vor Gericht 77 Morde und 42 Mordversuche beweisen. Das sind viele Verbrechen für eine einzige Anklageschrift - aber nach Meinung einiger Betroffener längst nicht genug. Denn das 18 Seiten starke Dokument reicht bei weitem nicht aus, um alle Leidensgeschichten zu erzählen, die am 22. Juli begannen.

Mordanschlag auf "600, vielleicht 800 Personen"

Staatsanwalt Holden entschuldigte sich am Mittwoch dafür, dass nicht alle Geschädigten erwähnt werden konnten. Die Staatsanwälte haben zwar Getötete und Schwerverletzten komplett aufgelistet. Aber viele, die leichtere Verletzungen oder psychische Schäden davongetragen haben, bleiben ungenannt. Insgesamt seien "600, vielleicht 800 Personen" an jenem Nachmittag einem Mordversuch ausgesetzt gewesen, schätzt Holden. Sie alle zu erwähnen sei unmöglich gewesen - es würde auch den Prozess in die Länge ziehen. Die Staatsanwälte haben darum repräsentative Fälle ausgewählt, um dem Gericht einen Eindruck vom Ausmaß der Anschläge zu vermitteln.

"Eine schwierige Entscheidung", sagte Holden. "Wir verstehen, dass es für den Einzelnen schwer sein kann, das zu akzeptieren. Aber wir hoffen, dass alle sich in den von uns ausgewählten Fällen wiederfinden können und sich mit eingeschlossen fühlen." Für spätere Schadenersatzforderungen habe die Auswahl keine Bedeutung.

Bei der Frage nach dem Strafmaß haben sich die Ankläger bewusst mehrere Möglichkeiten offen gehalten. Zunächst folgen sie in ihrer Anklageschrift dem ersten psychiatrischen Gutachten, das Breivik Ende 2011 paranoide Schizophrenie attestierte und ihn für unzurechnungsfähig erklärte. Hat diese Diagnose Bestand, muss Breivik in einer geschlossenen Anstalt behandelt werden - dem Gutachten zufolge wohl für den Rest seines Lebens. Der Befund ist jedoch umstritten, weshalb das Gericht inzwischen ein zweites Gutachten in Auftrag gegeben hat.

Vermutlich wird Breivik nie mehr frei kommen

Derzeit wird Breivik rund um die Uhr von Experten beobachtet, die seinen Geisteszustand beurteilen sollen. Vor Prozessbeginn am 16. April müssen sie zu einem Ergebnis kommen. Die Staatsanwälte behalten sich ausdrücklich vor, dann möglicherweise doch noch Gefängnis zu fordern. Für Terrorverbrechen ist die Höchststrafe von 21 Jahren Haft vorgesehen. Das Gericht kann zudem eine unbefristete Sicherungsverwahrung anordnen. So oder so wird Breivik also vermutlich nie mehr frei kommen - ganz ausgeschlossen ist es aber nicht. Sowohl eine Sicherungsverwahrung als auch die Zwangseinweisung in die Psychiatrie könnten irgendwann aufgehoben werden.

Dass der Fall Breivik mit einem Schuldspruch endet, steht eigentlich außer Frage: Der 33-jährige Rechtsradikale hat alle Taten gestanden. Allerdings meint er, dass er dafür nicht bestraft werden sollte. Er sieht sich als Freiheitskämpfer. In einem 1500-seitigen Pamphlet begründete er die Taten mit der Angst vor einer angeblichen "Islamisierung" Norwegens, für die er die sozialdemokratische Regierung verantwortlich macht. Folglich hält Breivik sich selbst auch für zurechnungsfähig. "Er glaubt diese Handlungen aus rationellen Überlegungen heraus verübt zu haben", sagte sein Anwalt Geir Lippestad am Mittwoch dem Fernsehsender NRK.

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Quelle:
SZ vom 08.03.2012
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