Süddeutsche Zeitung

Tag der vermissten Kinder:"Die ersten 24 Stunden sind am wichtigsten"

Lesezeit: 3 min

Von Jana Stegemann

Die kleine Inga ist verschwunden. Seit zwei Wochen sucht die Polizei mit einem Großaufgebot nach der Fünfjährigen. Das Mädchen war mit seiner Familie in Stendal (Sachsen-Anhalt) zu Besuch und wollte mit anderen Kindern im Wald Holz suchen. Danach verliert sich Ingas Spur.

Jährlich werden in Deutschland mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. 98 Prozent tauchen innerhalb von Stunden wohlbehalten wieder auf. Die anderen bleiben verschwunden. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes gelten aktuelle 3035 Kinder und Jugendliche als vermisst. Und irgendwann sucht die Polizei nicht mehr nach ihnen. Für Eltern und Angehörigen ist Lars Bruhns dann oft die letzte Hoffnung.

Der 34-Jährige ist Vorsitzender der "Initiative Vermisste Kinder". Seine verstorbene Mutter Monika hat den Verein gegründet. Seit 1997 bietet der Verein Betroffenen schnelle und unbürokratische Unterstützung bei der Suche nach vermissten Kindern. Bruhns und sein Team aus 24 ehrenamtlichen Mitarbeitern sammeln auf ihrer Webseite die Fotos und Beschreibungen von vermissten Kindern und unterstützen die Arbeit der Polizei.

Der Verein organisiert seit 2003 immer am 25. Mai in Deutschland den "Tag der vermissten Kinder". Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan rief die Aktion 1983 ins Leben. In Gedenken an den sechsjährigen Ethan Patz, der am 25. Mai 1979 in New York verschwand. Der Fall gehört zu den großen Rätseln der amerikanischen Kriminalgeschichte.

"Es gibt fast keinen Fall, in dem das Kind den Tag der Entführung überlebt hat"

Wenn ein Kind verschwindet, sind die ersten 24 Stunden am wichtigsten. "Bei Fällen, in denen Kinder entführt wurden, beträgt die Überlebenschance wenige Stunden. Es gibt fast keinen Fall aus der Vergangenheit, in dem das Kind den Tag der Entführung überlebt hat", sagt Bruhns. Er fordert daher in Deutschland eine zentrale Spezialeinheit der Polizei für vermisste Kinder. So wie es in anderen Ländern längst üblich ist. "Wir verlieren bei Vermisstenfällen aktuell zu viel Zeit durch überflüssige Abstimmungen und fehlendes Personal."

Die Öffentlichkeitsfahndung in den ersten Stunden diene ausschließlich dazu, das Leben des Kindes zu retten, so Bruhns. Es brauche in diesen Fällen eine sehr große Aufmerksamkeit, die von der Polizei zentral gesteuert werden müsse, auch die Menschen in den Nachbarländern müssten sensibilisiert werden.

"Die föderalen Strukturen in Deutschland sind zu schwerfällig", sagt Bruhns. "Im Fall Inga gibt es nun unzählige Facebook-Seiten, wo niemand überblickt, wer dahintersteht." Bruhns und seine Mitarbeiter erstellten und betreuen die Webseite www.woistinga.de, auf der alle relevanten Informationen zum Verschwinden des Mädchens präsentiert werden.

So funktioniert der "Amber Alert"

Bruhns will zudem den sogenannten Amber Alert in Deutschland etablieren. Das Alarmsystem stammt aus den USA und geht auf die neunjährige Amber Hagerman zurück, die am 13. Januar 1996 in Texas entführt wurde. Obwohl ihre Eltern sich sehr schnell an die Medien wandten und um Hilfe baten, wurde das kleine Mädchen vier Tage später tot aufgefunden. Vom Täter gibt es heute, 19 Jahre später, keine Spur. Dennoch: Der Fall hat die Notwendigkeit eines schnellen Alarmsymstems aufgezeigt. Im selben Jahr wurde in den USA von staatlicher Seite ein System zur schnellen Verbreitung von Vermisstenmeldungen aufgebaut. In anderen Ländern gibt es ähnliche Notfallsysteme.

Dadurch können innerhalb von Stunden Millionen Menschen informiert werden. Die Polizei könnte in Fällen, in denen eine akute Gefährdungssituation vermutet wird, den Amber Alert auslösen. Die Meldung über das vermisste Kind wird dann über soziale Netzwerke, Infobildschirme an Bahnhöfen, mobile Anwendungen und per SMS und Whatsapp im ganzen Land verbreitet. "In Deutschland könnten so innerhalb von drei Stunden mehr als sechs Millionen Menschen informiert werden", sagt Bruhns.

Das hätte im Fall Inga anders laufen können

Im Fall Inga ist die Polizei länger davon ausgegangen, dass sich das Mädchen nur verlaufen hatte. Erst nach vier Tagen sei von einem Entführungsfall ausgegangen worden. "Als die Polizei ein Verbrechen dann nicht mehr ausgeschlossen hat, war der Zeitkorridor für die Alarmierung bereits verstrichen", sagt Bruhns. In Polen laufe so etwas anders.

In Warschau gibt es seit zwei Jahren eine zentrale Sondereinheit der Polizei. Die 20 zuständigen Beamten arbeiten im Schichtsystem rund um die Uhr an den Vermisstenfällen. Zudem haben sie bei akuten Fällen die Möglichkeit, den Amber Alert auszulösen und somit in sekundenschnelle die Bevölkerung zu alarmieren.

Wie erfolgreich das System funktioniert, zeigt der Fall der zehnjährigen Maja aus Stettin. Das Mädchen war im vergangenen April entführt worden. Nach Auslösen des Amber Alerts suchten Menschen in ganz Polen nach Maja. In Deutschland wurde die Zehnjährige schließlich zufällig gefunden, weil der Entführer in einen Autounfall verwickelt war.

Zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Bevölkerung aber nicht über den Fall informiert. Bruhns will das ändern: "Neben der Einrichtung einer Spezialeinheit brauchen wir einen grenzüberschreitenden Amber Alert, der auch die Bevölkerung in den Nachbarländern alarmiert."

Maja wurde zwar in dem Unfall verletzt, aber konnte wieder nach Hause gebracht werden. Anders endete die Geschichte von Ethan Patz. Auch 36 Jahren nach seinem Verschwinden fehlt jede Spur von dem Jungen.

(Mit Material der Agenturen)

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