Süddeutsche Zeitung

Strafvollzug:Auch Schwerverbrecher haben ein Recht auf Haftlockerung

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Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wenn passiert, was nie hätte passieren dürfen, wenn ein inhaftierter Straftäter bei einem erlaubten Ausgang aus der Haft ein Kind vergewaltigt oder einen Menschen tötet, dann reagiert die Öffentlichkeit begreiflicherweise mit einer Mischung aus Wut, Hilflosigkeit und Unverständnis. Wie konnte es dazu kommen, warum durfte ein Gewaltverbrecher überhaupt einen Fuß in die Freiheit setzen? Solche Fragen werden dann gestellt.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht in drei Fällen beanstandet, dass Langzeithäftlingen solche Vollzugslockerungen versagt worden sind; einer saß wegen Mordes, ein anderer wegen Kindesmissbrauchs, der dritte wegen Totschlags. Die Beschlüsse lassen sich so zusammenfassen: Bei Haftlockerungen geht es nicht um Milde gegenüber Verbrechern. Sondern darum, dass die Grundbedingungen des Menschseins auch hinter Gittern erhalten bleiben.

Das Gericht nennt zwar keine Details, aber es ist klar, dass es sich um Schwerverbrecher handelt. Einer sitzt wegen Mordes seit mehr als 14 Jahren in einer Haftanstalt in Rheinland-Pfalz, der frühestmögliche Entlassungstermin wäre 2022. Die Anstaltsleitung zeichnet kein sonderlich günstiges Bild von ihm; den Mord habe er nie eingestanden, und er habe die Angewohnheit, anderen zu drohen. Weil auf seinem Facebookaccount - der, so sagt er, von außen geführt wird - Fotos aus dem Knast aufgetaucht waren, mutmaßt die Anstalt, dass er zeitweise ein Handy gehabt haben müsse.

Schon deshalb bestehe ein "erhebliches, unkalkulierbares Fluchtrisiko", sobald man ihm Lockerungen gewähre. Im zweiten Fall sitzt der Häftling wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Besitzes von kinderpornografischem Material seit zwölf Jahren in einem niedersächsischen Gefängnis. Sein Antrag auf eine begleitete Ausführung wurde abgelehnt: Noch drohe ihm kein Verlust seiner "Lebenstüchtigkeit" - kein Anlass also, mit kurzzeitigen Lockerungen gegenzusteuern.

Gegen dieses in allen drei Fällen vorgebrachte Argument erhebt das Bundesverfassungsgericht grundlegende Einwände. Strafvollzug müsse stets auf das Ziel ausgerichtet sein, den Inhaftierten wieder ein straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen - also auf Resozialisierung. Den schädlichen Wirkungen der Haft müsse man daher entgegenwirken und die "Lebenstüchtigkeit" der Häftlinge erhalten, auch wenn noch keine Entlassung bevorstehe. Das sei umso dringlicher, je länger die Haft dauere. Und es gelte eben nicht erst dann, wenn sich ihr Zustand durch die Haft bereits deutlich verschlechtert habe.

Nicht bis zur "haftbedingten Depravation" warten

Anstaltsleitung und Gerichte dürfen demnach nicht abwarten, bis der Häftling in dumpfer Perspektivlosigkeit versinkt, sich von der Umwelt abschottet und krankhafte Persönlichkeitsveränderungen bis hin zur Haftpsychose entwickelt; "haftbedingte Depravation", so nennt man diesen Prozess der zunehmenden Abstumpfung, der auf einen menschlichen Verfall hinter Gittern hinausläuft. Die Strafvollzugskammern hätten diese Umstände "grundlegend missverstanden", befand Karlsruhe.

Die zweite Kammer des Zweiten Senats macht aber zugleich deutlich, dass das Thema Sicherheit hier eine große Rolle spielt. In allen drei Fällen ging es um "Ausführungen" in Begleitung von Sicherheitspersonal - und nicht um einen ungleich riskanteren Ausgang. Ein Fluchtrisiko müsse aber konkret belegt sein und dürfe nicht pauschal unterstellt werden. Zudem könnten solche Risiken verringert werden, etwa durch eine "Hamburger Fessel", eine von außen nicht sichtbare Fesselung, die eine Flucht erschwert. Einen Einwand jedenfalls lässt Karlsruhe nicht gelten - Personalknappheit: "Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen."

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Quelle:
SZ vom 19.10.2019
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