Süddeutsche Zeitung

Ostsee:4,5 Kilometer Vergangenheit

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Seit 70 Jahren verfällt das Seebad Prora auf Rügen, ohne jemals richtig genutzt worden zu sein. Eine Jugendherberge soll nun Leben in die Ruine bringen.

Jens Schneider

Es ist gut, dass es nicht regnet an diesem Morgen. "Über eine Regenvariante", fällt Rainer Roloff beim Blick auf den endlosen grauen Block ein, "haben wir nicht nachgedacht." Der Leiter des Bauamtes der Ostseeinsel Rügen deutet ein ironisches Grinsen an: Was sollte hier die Regenvariante sein? Unter die Mäntel kriecht kalte, feuchte Luft von der Ostsee, die nur wenige Meter hinter der mächtigen, novembergrauen Betonwand liegt. Fünf Geschosse ist der Klotz hoch. Und so lang, wie das Auge blicken kann. Gen Osten, nach Binz hin, zieht sich das Gemäuer über Kilometer am Strand entlang. Es birgt Tausende Zimmer, alle haben Seeblick. Dennoch würde man vor einem Regen nicht gern da hinein flüchten wollen.

Es gibt kein Glas mehr in den Fenstern. Die dicken Türen zu den Aufgängen sind mit Vorhängeschlössern gesichert. Drin zeigt der Leiter des Bauamts auf feuchte Stellen in der Mauer. "Da ist viel zu tun", sagt Roloff. Bei ihm laufen die Planungen für ein Projekt zusammen, das nach Jahren des Verfalls ein Signal setzen soll. Der Landkreis Rügen baut in Block 5 von Prora eine Jugendherberge. Die ersten Vorarbeiten beginnen gerade. Ab Sommer 2011 sollen hier 400 junge Gäste übernachten können.

Düster wirken die Zimmer, die Gänge niedrig. Einige Geschossdecken sind erschreckend dünn. Stimmt eben doch nicht, was die Leute so sagen, murmelt er: dass die für die Ewigkeit gebaut haben. Damals, im Dritten Reich, als dieses monströse Bauwerk entstand; wie es heißt nach einer Idee von Adolf Hitler. Roloff führt ins obere Stockwerk, und da ist endlich zu begreifen, warum der Koloss hier entstand - und was er einmal werden kann.

Idyll für 20.000 Menschen

Der Blick reicht über die ganze Bucht, das Prorer Wiek, links gleitet eine Fähre in den Hafen von Mukran, rechts ist die Promenade des feinen Strandbades Binz zu erahnen. Unter dem Fenster erstreckt sich der helle Strand. Flach geht es ins Wasser, schön auch für endlose Spaziergänge im Herbst. Dieses Idyll haben sich die Nationalisten für ihr "Seebad der 20.000" ausgesucht. Im Auftrag der NS-Organisation "Kraft durch Freude" wurde Prora zwischen 1936 und 1939 auf 4,5 Kilometern Länge hochgezogen.

Im größten Seebad der Welt sollten, versprach ihre Propaganda, sich Arbeiter mit ihren Familien erholen. Acht Bettenhäuser plante der Architekt Clemens Klotz, jeder Trakt 450 Meter lang, eine gewaltige Festhalle, Schwimmbäder. Für seinen Entwurf bekam er 1937 einen Grand Prix bei der Weltausstellung in Paris. Die gleichgeschalteten Zeitungen feierten den Bau so ausgiebig, dass seinerzeit viele glaubten, Prora sei längst im Betrieb. Doch es kamen niemals Urlauber. Als mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, endeten die Arbeiten abrupt.

Ausbildungsort für das Polizeibataillon

Prora diente bald Kriegszwecken - als Ausbildungsort für ein Polizeibataillon, später als Notunterkunft für Ausgebombte, später auch als Lazarett. Daran hatten die Planer schon bei Baubeginn gedacht. Nach dem Krieg zog die Rote Armee ein, später die Nationale Volksarmee. Heute ist Prora neben dem früheren Reichsparteitagsgelände in Nürnberg das größte verbliebene Baumonument aus der NS-Zeit, seit 1992 steht der bizarre Bau unter Denkmalschutz. Doch er blieb für die Insel ein Fremdkörper. "Nicht alle Rüganer empfinden Prora als Teil ihrer Identität", weiß Rainer Roloff.

Den Ort Prora gab es nicht, bis die Nationalsozialisten das brachiale Projekt begannen. Für die Insulaner war er jahrzentelang Sperrgebiet. Seit dem Auszug der Soldaten wurden viele Ideen für eine angemessene Nutzung ventiliert. Der Bund ließ Konzepte schreiben, hielt sich aber nicht an die Empfehlungen. Darüber verfielen die meisten Gemäuer. Investoren sprangen wieder ab. In den Neunzigern eröffnete eine Jugendherberge, schrieb schwarze Zahlen, musste aber wieder schließen. Man hatte ja andere Pläne.

Wie Vögel, die verlassene Gemäuer als ideale Nistplätze wählen, entdeckten damals Künstler, auch zuweilen windige Geschäftsleute und Menschen mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein Prora. Zwischen den Ruinen blühten wilde Galerien und Künstler-Werkstätten. Neben dem von den Nazis geplanten Empfangsgebäude ist inmitten der toten Blöcke ein skurriler Tivoli entstanden.

Da verspricht die Discothek Miami "jeden Samstag volles Rohr!" Handzettel preisen "sexy Gogos" an. Es gibt einen Hochseilgarten und das private "Erlebnis-Museum", eine Art Prora-Panoptikum. Hier sei alles "neutral, nicht glorifiziert, nicht negativ" verspricht das Plakat. Wie in einer Puppenstube stehen lebensgroße Modelle in Uniformen der Nationalen Volksarmee in nachgestellten Kompanieräumen. Besucher lassen sich mit dem Gesicht in einer Pappfigur als NVA-Fallschirmspringer fotografieren. Es kommen, erzählt der Mann am Einlass, viele frühere Soldaten.

Jetzt geht es los

Auf dem Parkplatz begegnet man Touristen, die hilflos nach dem richtigen Zugang zum Monument Prora suchen. Freilich bemühen sich Intiativen auch um eine historisch würdige Präsentation. Neben der Disco zeigt eine feine Dauerausstellung die Geschichte des Ortes und erklärt Hintergründe der NS-Propaganda. Ihr Betreiber sorgt sich aber um die Existenz. Es geht nicht nur um die Finanzierung, sondern auch um die Frage, wo und wie künftig an die Geschichte des Ortes erinnert wird. Diese Blöcke sind an Investoren verkauft, irgendwann sollen Hotels und Ferienwohnungen entstehen.

Damit endlich was passiert, hat der Landkreis sich nun zu dem Kraftakt entschlossen, die Jugendherberge für 16,33 Millionen Euro zu bauen. Der Jugendherbergsverband wird sie führen, so wie bereits den Zeltplatz vor dem Block. Bei den Planungen muss Roloff nicht nur den Denkmalschutz im Kopf haben. Hier ist so wenig Leben, aber so viel Vergangenheit. NVA-Fallschirmspringer wollen Zeichen der Erinnerung, und erst recht frühere DDR-Bausoldaten. Sie hatten den Dienst an der Waffe abgelehnt und waren hier kaserniert, als sie den Hafen von Mukran ausgraben mussten.

Roloff sucht dazu händeringend Nutzer, die in Block 5 weitere Angebote für Jugendliche schaffen. Es soll ein Zentrum junger Menschen für ganz Mecklenburg-Vorpommern werden, sagt er. "Wir ziehen einen klaren Schnitt zu dem, was Prora als KdF-Bad sein sollte."

Noch lässt sich nicht erahnen, wie die Herberge einmal aussehen könnte. Aber alles ist angelegt. Unter dem alten Hubschrauberlandeplatz liegen Leitungen, um eine Festival-Bühne zu versorgen. Im Block soll es in den endlosen Gängen eine "Flaniermeile" geben. Roloff hofft, Sponsoren zu finden, um den Block mit Photovoltaik als "energetisch zukunftsweisendes Modellprojekt" zu entwickeln. Wieder viele Ideen. Aber er schildert sie nüchtern, ohne große Worte, froh, anzufangen. Visionen hat Prora genug erlebt.

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SZ vom 23.11.2009/abis
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