Süddeutsche Zeitung

Kopenhagen:Alle auf die Meerjungfrau

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Das bekannte Wahrzeichen der dänischen Hauptstadt ist mit einer weltpolitischen Botschaft verunstaltet worden. Nicht zum ersten Mal.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Die kleine Meerjungfrau ist die jüngste und bezauberndste der sechs Töchter des Meereskönigs. Sie spielt außerdem die Hauptrolle in Hans Christians Andersens gleichnamigem Märchen von 1837 ("Den lille Havfrue") sowie in diversen Verfilmungen, von denen vor allem der Disneyfilm von 1989 dazu beigetragen hat, dass sich bis heute eine Menge chinesischer Touristen auf den Weg an die Langelinie machen, das ist eine der Uferpromenaden im Hafen von Kopenhagen.

Die kleine Meerjungfrau ist nämlich auch eine bronzene Statue, die dort melancholisch übers Wasser blickend auf einem Stein sitzt, während im Hintergrund die Schornsteine des neuen Müllkraftwerks dampfen.

2017 wurde die kleine Meerjungfrau mit roter Farbe übergossen.

2004 bekam die kleine Meerjungfrau eine Burka verpasst.

2010 nahm ein Skelett auf dem Felsen Platz, auf dem sonst die kleine Meerjungfrau sitzt. Sie selbst war verreist: zur Weltausstellung in Shanghai.

Während das Müllkraftwerk Amager Bakke im Moment als ziemlich cool gilt, weil man auf seinem Dach Ski fahren kann, hat die kleine Meerjungfrau es geschafft, wie einem Kopenhagener Reiseführer gerne ungefragt erzählen, zuverlässig immer wieder in diverse Listen der weltweit "am meisten enttäuschenden Sehenswürdigkeiten" gewählt zu werden. Die kleine Meerjungfrau an der Langelinie ist nämlich: klein.

Eine Botschaft an die Chinesen

Tatsächlich ist sie für ein Wahrzeichen von einer Kleinheit, auf die einen der Name nicht wirklich vorbereitet. Einen Meter und 25 Zentimeter misst sie, um genau zu sein. Es können sich kaum mehr als eineinhalb Chinesinnen zur gleichen Zeit um ihren Leib schlingen fürs obligatorische Andenkenfoto. Die Schlangen sind deshalb lang.

Am Montagmorgen waren sie noch länger, die Polizei hatte das Gebiet um die Meerjungfrau abgesperrt. Über Nacht war nämlich auf dem Felsen unter ihr ein knallrotes Graffiti aufgetaucht: "Free Hongkong" stand darauf, eine Botschaft, die der unbekannte Maler offenbar auf all die Chinesenfotos hatte schmuggeln wollen. Das ist zwar einerseits weltpolitisch gut gemeint, wird in Kopenhagen aber andererseits als unnötige weitere Respektlosigkeit gegenüber der 1913 auf die Welt gekommenen schönen Meerjungfrau wahrgenommen.

Tatsächlich hatte sie in ihrem Leben mehr als ihren gerechten Anteil an Verunstaltungen zu ertragen. Witzbolde haben der kleinen Meerjungfrau schon einen Dildo in die Hand gedrückt (offenbar um für den Internationalen Frauentag zu werben), ihr eine Burka übergestülpt (als Protest gegen einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU) oder ihr eine Gesichtsmaske übergezogen (aus Solidarität mit der russischen Band Pussy Riot). Sie wurde, vorgeblich im Interesse der vom Walfang bedrohten Wale vor den Färöern, mit roter Farbe übergossen, bekam einmal einen Arm abgesägt, und wurde 2003 gar von ihrem Stein gesprengt und im Hafen versenkt, ausnahmsweise ohne Bekennerschreiben.

Eines der spektakulärsten Attentate widerfuhr ihr schon früh in ihrer Existenz: Am 24. April 1964 fand man sie das erste Mal geköpft; der Kopf war abgesägt und entführt worden. Der dänische Aktionskünstler Jørgen Nash bekannte sich Jahrzehnte später zu der Tat und nannte sich fortan "Meerjungfrauenmörder". Kunstkritiker und Kommentatoren luden die Enthauptung auf mit allerlei Interpretationen: Konsumkritik sei das gewesen, ein Protest gegen die von der Tourismuswerbung gerne propagierte Niedlichkeit eines romantischen Dänemarks. Nash selbst erzählte Reportern dann, er habe damals im Affekt gehandelt: nämlich aus Liebeskummer. Von den Tätern dieser Woche gibt es bislang keine Spur.

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Quelle:
SZ vom 15.01.2020
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