Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Mahnmal aus Ruß und Beton

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Zahlreiche Menschen sterben beim Brand eines Londoner Hochhauses, bei der Rettung spielen sich dramatische Szenen ab. Offenbar gab es bei den Sicherheitsvorkehrungen des Sozialbaus gravierende Mängel.

Von Alexander Menden, London

Am Donnerstagmorgen sah man noch immer dünne, grauweiße Rauchschwaden aus dem Grenfell Tower aufsteigen. Sie schlängelten sich aus rußigen Löchern, die einmal die Fenster der obersten Stockwerke des West-Londoner Wohnblocks gewesen waren, und verloren sich im blauen Sommerhimmel. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Löscharbeiten der London Fire Brigade (LFB) mit circa 200 Einsatzkräften und 45 Fahrzeugen bereits seit mehr als 30 Stunden. Noch immer war der schlimmste Brand in einem britischen Wohngebäude seit Menschengedenken nicht ganz unter Kontrolle.

Ausgebrochen war er gegen ein Uhr morgens in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Die Brandursache ist bisher noch nicht geklärt. Was das Feuer so ungewöhnlich und verheerend machte, war die Geschwindigkeit, mit der es sich ausbreiten konnte: Innerhalb einer Viertelstunde hatte es den obersten, den 24. Stock, erreicht. Dabei kletterten die Flammen gleichzeitig im Inneren des Wohnblocks als auch an seiner neuen Fassadenverkleidung empor.

"Menschen saßen auf den Fensterbänken und riefen: 'Ich springe runter!'", berichtet Isabel Alfonso, die in einem Nachbargebäude wohnt. "Die, die unten standen, riefen 'Spring nicht, sie kommen dich holen!' Das war gegen 1.30 Uhr, da war noch niemand in Sicherheit gebracht worden." Viele Bewohner folgten den Anweisungen der Bergungskräfte, in ihren Wohnungen auszuharren, die vermeintlich feuerfesten Türen mit nassen Handtüchern abzudichten und auf Rettung zu warten. "Wenn wir das gemacht hätten, wären wir jetzt nicht hier", sagte Michael Paramasivan, der sich mit seiner Freundin und Tochter aus dem siebten Stock gerettet hatte. "Als wir im vierten Stock ankamen, war alles pechschwarz. Von außen sah ich Menschen, die von innen an die Fenster trommelten." Es gab Berichte von Bewohnern, die ihre Kinder vor Verzweiflung aus den Fenstern ihrer qualmerfüllten Wohnungen warfen oder selbst aus den oberen Stockwerken sprangen.

Um das Feuer im Gebäudekern unter Kontrolle zu bringen, kam auch ein unbemannter Löschkran zum Einsatz. In 29 Dienstjahren habe sie eine solche Brandkatastrophe noch nicht erlebt, sagte die sichtlich erschütterte Feuerwehrchefin Dany Cotton. Die Hälfte des Gebäudes könne man noch gar nicht betreten, es müsse erst statisch gesichert werden. Obwohl sich Hunde-Suchtrupps der Metropolitan Police Stück für Stück durch die begehbaren Teile der 120 Wohnungen arbeiteten, gab es am Donnerstag keine Hoffnung mehr, noch Lebende zu finden.

Am frühen Mittwochmorgen breitete sich ein gewaltiges Feuer im Grenfell Tower in London aus. In den 120 Wohnungen lebten bis zu 600 Menschen.

Die Bewohner des Hochhauses im Stadtteil Kensington hatten bereits in der Vergangenheit den minderwertigen Brandschutz moniert.

Am Donnerstag wurde noch immer gelöscht, während sich Premierministerin Theresa May einen Überblick verschaffte.

Erschöpft und verzweifelt: Die Suche nach weiteren Opfern wurde vorerst abgebrochen, da das Haus möglicherweise einsturzgefährdet ist. Die Feuerwehr konnte bislang 65 Menschen aus den Flammen retten.

Andere brachten sich selbst in Sicherheit. Nahe des Grenfell Tower wird den Überlebenden Kleidung zur Verfügung gestellt.

Trauernde bekundeten an einer Wand in der Westlondoner Siedlung ihr Beileid.

Diese junge Frau hat eine Vermisstenanzeige an ihrem Oberteil befestigt. Gesucht wird ein 12-jähriges Mädchen namens Jessica.

Die Behörden korrigierten die Zahl der Toten ständig nach. Zuletzt waren es 17, aber die Rettungsdienste gingen fest davon aus, dass sie weiter steigen würde. 37 Menschen lagen noch im Krankenhaus, 17 von ihnen in kritischem Zustand. Ganze Familien mussten in verschiedenen Einrichtungen behandelt werden; so lag eine Schwangere am Donnerstag mit Rauchvergiftung auf der Intensivstation eines Nord-Londoner Krankenhauses, zwei ihrer Kinder kamen mit schweren Verbrennungen in separate Traumazentren. Es kann Wochen dauern, bis geklärt ist, wie viele Menschen sich bei Ausbruch des Feuers tatsächlich im Gebäude befanden. LFB-Chefin Cotton kündigte einen "langen und gewissenhaften Durchsuchungsprozess" an.

Der Grenfell Tower, Produkt des sozialen Wohnungsbaus der frühen Siebziger im West-Londoner Stadtteil Kensington, war erst 2016 renoviert worden. Die Baufirma Rydon, die das Gebäude saniert hatte, beteuert, man habe alle erforderlichen Brandschutzbestimmungen und Sicherheitsstandards eingehalten. Doch die Mieter-Interessengruppe Grenfell Action Group betont, sie habe den Großvermieter, der Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation, seit Jahren auf die Sicherheitsrisiken im Gebäude hingewiesen. Alle Warnungen seien ungehört verhallt. Im November vergangenen Jahres hatte die Interessengruppe vorausgesagt, "dass nur ein katastrophales Ereignis die Inkompetenz unseres Vermieters offenlegen und die gefährlichen Bedingungen und die Vernachlässigung von Sicherheitsbestimmungen beenden wird, denen die Mieter unterworfen werden".

Menschen, die es am Mittwoch aus dem Gebäude schafften, berichteten von nicht vorhandenen Sprinkleranlagen, blockierten Fluchtwegen und viel zu leisen Alarmsignalen. Ein zusätzliches Brandrisiko stellte anscheinend die Fassadenverkleidung dar. Verkohlte Fetzen dieses erst vor wenigen Monaten - wohl vorwiegend aus kosmetischen Gründen - angebrachten Aluminium-Verbundmaterials lagen am nächsten Tag überall in der Umgebung verstreut. Sam Webb, Architekt und Sachverständiger für Gebäudesicherheit, nannte Gebäude wie den Grenfell Tower "Katastrophen mit Ansage": "Wir wickeln Nachkriegshochhäuser in hochentflammbare Materialien, bauen keine Sprinkleranlagen ein, und sind dann überrascht, wenn sie niederbrennen", so Webb. Die "Deregulierungswut" der britischen Regierung habe zu dieser Katastrophe beigetragen.

Premierministerin Theresa May unterbrach am Donnerstag ihre Koalitionsverhandlungen für eine Ortsbegehung in Kensington. Sie kündigte eine "sorgfältige öffentliche Untersuchung" an. May sieht sich harter Kritik an ihrem Sparkurs ausgesetzt, der zu einer Ausdünnung von Polizei, Feuerwehr und National Health Service geführt hat - jenen Diensten also, die schon vor dem Brand durch Terroranschläge unter besonderem Druck gestanden haben. Labour-Chef Jeremy Corbyn sagte in Kensington, die Wahrheit über die Gründe der Katastrophe müsse ans Licht gebracht werden: "Jeder, ob reich, arm oder irgendwo dazwischen, hat das gleiche Anrecht auf öffentliche Unterstützung."

Zwar haben alle Parteien davor gewarnt, die Katastrophe politisch zu instrumentalisieren - doch scheint das bei der brisanten politischen Gemengelage in Großbritannien unvermeidlich zu sein. Die Wut der Überlebenden war am Donnerstag spürbar. Das Hochhaus war Teil des Lancaster West Estate, einer Sozialsiedlung inmitten einer der teuersten Wohn- und Geschäftsgegenden der Welt. Dass es ausgerechnet da brannte, wirkt wie die Ruß und Beton gewordene Manifestation des weit verbreiteten Gefühls sozialer Ungerechtigkeit, das die britische Gesellschaft so tief spaltet wie seit Jahrzehnten nicht.

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SZ vom 16.06.2017
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