Süddeutsche Zeitung

Hurrikan "Dorian":Das Glück nach dem Sturm

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In Titusville, Florida, haben sich die Bewohner nahezu perfekt auf den Wirbelsturm vorbereit. Jetzt ist "Dorian" abgedreht. Besuch in einer Stadt, die gerade so davongekommen ist.

Von Thorsten Denkler, Titusville

Drüben in New Orleans, da hat Betsy der Familie Arieux damals zwei Häuser geraubt, einfach weggerissen vom Wind. Betsy war ein Hurrikan der Kategorie 3, als er 1965 die Stadt erreichte. Er spülte ungeheure Wassermassen an Land. Es dauerte zehn Tage, bis die ersten Menschen zurück zu ihren Häusern konnten. Viele fanden nur Trümmer vor. Randy Arieuxs Familie ging weg, nach Titusville in Florida. Nicht weit weg von Orlando und Disney World. Sieben Jahre alt war er damals, seine Mutter stammte aus Titusville. Die Stadt liegt auch am Meer. Aber es gibt weniger Probleme mit Überflutungen.

54 Jahre später sitzt Randy Arieux mit Frau, Tochter und Hund auf der Bank neben den automatischen Schiebetüren vor dem Townplace Suites Hotel am westlichen Stadtrand von Titusville. Dass sie hier sitzen und scherzen und lachen können, ist ein kleines Wunder. In der Nacht zum Mittwoch war der Supersturm Dorian über Titusville hinweggezogen. Zwei Tage zuvor war das noch ein Kategorie-5-Monstrum, das über den Bahamas wütete. 36 Stunden harrte Dorian über den Inseln aus. Nach allem, was bisher bekannt ist, hat er auf einigen Inseln alles zerstört, was Menschen dort je errichtet haben.

Randy und seine Familie haben ihr Haus verlassen, wie die Behörden es geraten haben. Sein Haus, gebaut aus Holz, hält Windgeschwindigkeiten bis zu 110 Meilen pro Stunde aus, knapp 190 Kilometer pro Stunde. Dorian wirbelte mit fast 300 Kilometern pro Stunde über den Bahamas. Wären einige Vorhersagen eingetreten, dann wäre sein Haus das dritte in der Familiengeschichte gewesen, das ein Hurrikan zerstört.

Randy nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, ein kleiner Trip durch die Stadt am Morgen nach dem Sturm. Der Wind bläst noch, abgebrochene Palmwedel liegen auf den Straßen, hin und wieder prasseln Schauer nieder, als wolle Dorian noch einmal zeigen, was in ihm steckt. Aber alles in allem ist es ruhig. Im Bezirk haben ein paar tausend Haushalte keinen Strom. Aber das ist kaum der Rede wert. Die Häuser werden fast durchgängig mit Oberleitungen versorgt. Wenn mal ein Ast im falschen Winkel wegbricht, ist ein Straßenzug eben ohne Strom. Dutzende Speziallaster mit Hebebühnen sind im Einsatz, mit deren Hilfe die Schäden schnell repariert werden können. Randy sagt, die Leute hier kennen sich mit Stürmen aus. Sie waren alle gut auf Dorian vorbereitet.

Randy muss es wissen. Er war über 20 Jahre lang der stellvertretende Sheriff in Brevard County. Über 500 000 Menschen leben in diesem Landkreis. Sturmvorbereitungen gehören hier zur jährlichen Routine. Weil die Winde zu stark waren, sind für die Nacht alle Brücken gesperrt worden, die sich etwa über die Indian River Lagune und den Banana River nach Cape Canaveral spannen. Die NASA hat hier einst ihre Mondraketen abgefeuert. Alle Häuser in Flutgebieten sind evakuiert worden. Die Leute haben die Fenster ihrer Häuser und Geschäfte mit Sperrholzplatten verbarrikadiert.

Es gibt jetzt keinen Grund mehr, angespannt zu sein

Wir biegen ab in die Riverside Road, die früher Teil des US-Highway 1 war. Die Häuser stehen hier direkt am Wasser. Es ist eines der wenigen Viertel der Stadt, die spüren lassen, dass dieser Ort eine längere Geschichte hat. Hier stehen noch ein paar wenige von Palmen umrahmte Holzvillen aus den 20er- und 30er-Jahren. Viele dieser Häuser sind über die Jahrzehnte in diversen Stürmen zerstört worden, sagt Randy. Dorian hat davon abgesehen.

Randy zeigt auf einen Fischadler, der auf einem Pfahl im Wasser hockt. Dann zückt er sein Handy und zeigt seine Bilder, Kraniche, Adler, alle Arten von Gefieder, das in dieser Gegend ansässig ist. Naturfotografie ist sein Ding. Und Tatorte. Als er noch im Dienst war, war er dafür zuständig, Tatorte zu untersuchen und abzulichten. Der schlimmste Fall? In den Achtzigern, John Brennan Crutchley, der Vampir-Killer. Ein Mann, der vergewaltigte, mutmaßlich tötete und das Blut seiner Opfer trank. 30 Frauen soll er umgebracht haben. "Wir konnten ihm nur Vergewaltigung sicher nachweisen", sagt Randy. Er kommt ins Erzählen. Wie sie Crutchley damals gefasst haben, wie schwer die Ermittlungen waren, wie froh alle waren, dass er lebenslänglich bekam.

Es gibt jetzt keinen Grund mehr, angespannt zu sein, das Schlimmste zu befürchten. Randys Haus steht noch. Das ist das Wichtigste.

Der Weg eines Hurrikans lässt sich eben nicht exakt vorhersagen

Es geht zur neuen Pier-Anlage auf die andere Seite des Indian River, dem Parrish Park. Die Brücke dorthin ist wieder frei. Neue Wege, neue Bootsanleger, neue Picknickplätze. Wenn Dorian etwas zerstört hat, dann hier, sagt Randy. Der Wind pfeift hier besonders stark. Und die Wellen schlagen hier besonders kräftig gegen die niedrige Kaimauer. Auch jetzt spritzen sie noch meterhoch über die Mauer hinweg. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was erwartet worden war. Hätte Dorian hier mit der gleichen Wucht zugelangt wie auf den Bahamas, dann wäre die ganze Sanierung umsonst gewesen.

Randys Frau Gene ruft an. Sie müsse nun doch schon ins Geschäft an diesem Morgen. Wir sollen uns beeilen, damit Randy sie in den Laden für Oldtimer-Teile bringen kann, wo sie im Verkauf arbeitet.

Das Hotel leert sich derweil langsam. Wer hier Unterschlupf gefunden hat, dem einzigen Hotel mit einem Notstromgenerator in der Gegend, packt jetzt seine Sachen. Jeder will so schnell wie möglich nach Hause. Manche haben die Koffer vollgepackt mit Andenken, Fotoalben, Schmuck, den wichtigsten Papieren. Hunde, Katzen, der Opa im Rollstuhl. Alle mussten mit. Es hätte ja sein können, dass da, wo gestern noch ihr Heim stand, heute nur ein Trümmerhaufen liegt.

Deana Albritt kommt reichlich verspätet zum Frühstück in die Lobby. Sie ist 28 Jahre alt und Reporterin für den lokalen Newssender Channel 9. Deana hat bis spät in die Nacht Liveschalten aus Titusville gemacht. Jetzt erstmal einen Kaffee und Bagel mit Ei und Bacon. Es ist ihr zweiter Hurrikan. Ihr Sender hat zehn Tage lang in Dauerschleife über Dorian berichtet. Warnung über Warnung ging hinaus, sich vorzubereiten auf einen Sturm ungeheurer Wucht. Und so groß, dass er Florida komplett bedeckt hätte. Jetzt ist er abgedreht, zieht immer weiter aufs Meer hinaus.

Alles umsonst? "Ein bisschen ist das so", sagt sie. Aus Reportersicht zumindest. Aber sie ist froh, dass nichts weiter passiert ist, sagt sie. Der Weg eines Hurrikans lässt sich eben nicht exakt vorhersagen. Es hätte auch alles ganz anders kommen können. Und trotz der vielen Warnungen - sie hat viele Menschen getroffen, die nicht hören wollten, die einfach zu Hause geblieben sind.

Albritt stammt aus dem Mittleren Westen. Sie ist mit Tornados groß geworden. "Da hast du 15 Minuten Zeit, um zu entscheiden, was du mitnimmst in den nächsten sicheren Keller", sagt sie. Einmal, Deana war noch ein Kind, da hat ein Tornado um ihr Bungalow-Haus herum alle anderen Häuser wegrasiert. Er hat einfach eine Kurve um ihr Haus gemacht. "Da lernt man, wie wichtig es ist, vorbereitet zu sein."

Und es ist ja nicht vorbei, nur weil Dorian es sich anders überlegt hat. "Wir hatten fünf Kategorie-5-Stürme in den vergangenen drei Jahren", sagt Deana. "Und der nächste braut sich offenbar gerade zusammen." Sie befürchtet jetzt, dass die Menschen die nächsten Warnungen nicht ernst nehmen, nur weil diesmal die Katastrophe in Florida ausblieb. Auf dem Fernseher gegenüber sind Bilder von den Bahamas zu sehen. Es ist die totale Zerstörung. Es scheint kein Haus mehr zu stehen und kaum noch ein Baum. Dass Deana jetzt in Ruhe ihren Kaffee trinken kann: reines Glück.

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