Süddeutsche Zeitung

Erziehung:Männer als Exoten

Lesezeit: 2 min

In Deutschlands Krippen und Kindergärten arbeiten mehr als 95 Prozent Frauen. Dabei bräuchten die Kinder dringend auch männliche Bezugspersonen.

Von Christina Berndt

Deutsche Kindergartengruppen sind ein bunter Haufen. Dort spielen Juden mit Muslimen, Kubaner mit Amerikanern und Down-Kinder mit Rollstuhlfahrern. Sie werden von Homo- und Heterosexuellen erzogen. Nur eine Gruppierung findet sich in Kindergärten kaum: Männer. Sie sind die wahren Exoten in den Erziehungseinrichtungen dieses Landes. Auch im vergangenen Jahr konnten sie die Fünf-Prozent-Marke nicht knacken. So rechnet es die Koordinierungsstelle "Männer in Kitas" vor. Zum Stichtag 1. März 2015 arbeiteten demnach 24 878 männliche Erzieher bundesweit in Kindertageseinrichtungen, die Schulhorte nicht mitgezählt. Ihnen standen etwa 500 000 Frauen gegenüber. Die Männer machten also gerade mal 4,7 Prozent aus. Auffällig hoch ist ihr Anteil im Osten und in den Ballungsräumen. Während in Sachsen schon 6,2 Prozent der Erzieher männlich sind und in Frankfurt und Kiel Spitzenwerte von 14 Prozent erreicht werden, gibt es in bayerischen Kitas besonders wenig Männer.

Kinder profitieren von einer bunten Welt um sie herum - und dazu gehören auch Männer

Dabei sind sich die meisten Pädagogen und Politiker einig: Mehr Männer wären segensreich für die Erziehung der Kleinsten. Es geht nicht so sehr darum, dass die "Basteltante" einen "Tobeonkel" neben sich braucht. Das seien vor allem Klischees, betont der Pädagogikprofessor Tim Rohrmann von der Evangelischen Hochschule Dresden. Erzieher und Erzieherinnen unterschieden sich in ihrem Verhalten kaum voneinander, wie verschiedene Studien ergeben hätten, darunter auch die Dresdner Tandem-Studie. Männer seien genauso einfühlsam, Frauen genauso "herausfordernd und explorationsorientiert", betont Rohrmann.

Dennoch benennte der Pädagoge Vorzüge gemischter Erzieherteams: Auch wenn Jungen ohne männliches Rollenvorbild ihre Rolle finden können, machen es ihnen Männer als Erzieher doch leichter damit, zumal vielen Kindern zu Hause der Vater fehlt. Und die Koordinierungsstelle "Männer in Kitas", ein Projekt der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, betont: Kinder sollten möglichst schon früh erleben, "dass auch Männer da sind, wenn es um ihre Fürsorge, Erziehung und Bildung geht." Die Erfahrungsvielfalt von Kindern werde durch männliche Erzieher größer. Kurz: Kinder profitieren von einer möglichst bunten Welt um sie herum, von möglichst unterschiedlichen Ansichten und Anregungen. Und Männer machen die Welt nun einmal bunter. Außerdem werden seit Jahren händeringend Erzieher gesucht; aus politischem Kalkül wäre es schon deshalb unklug, die Hälfte der Gesellschaft auszuklammern.

Zahlreiche Kampagnen haben deshalb schon um mehr Männer in Kitas geworben - mit nicht gerade durchschlagendem Erfolg. Dabei haben sich die Stellen wirklich angestrengt: Junge Männer wurden mit Berufsorientierungsseminaren und "Boys' Days" auf ihre mögliche Rolle in der Kindererziehung eingestimmt; spezielle Handbücher wurden angefertigt, die sich den Themen "Gender in der pädagogischen Arbeit", "Männerarbeitskreis" und "Generalverdacht" widmeten. Trotzdem bekommen Deutschlands Kinder in einer immer noch von Müttern geprägten Familie und den von Frauen dominierten Krippen, Kindergärten und Grundschulen weiterhin wenig männliches Leben mit. Immerhin: Wenn die jährliche Steigerungsrate von etwa 0,3 Prozentpunkten aus den vergangenen Jahren fortgesetzt wird, könnte die Fünf-Prozent-Männer-Marke noch in diesem Jahr geknackt werden.

"Männer haben eine andere Aura als Frauen"

Vielleicht bin ich Erzieher geworden, weil ich selbst nicht so gerne erwachsen werden wollte. Ich war vorher Elektriker. Nach der Ausbildung habe ich Zivildienst in einer Reha-Klinik für Kinder gemacht, danach war mir klar, dass ich umschulen will. Man möchte eigentlich nicht in Geschlechter-Klischees abdriften. Aber es stimmt schon, dass Männer eine andere Aura haben als Frauen, keine bessere oder schlechtere, eine andere, und darauf reagieren die Kinder. Gerade bei mir. Ich habe einen Vollbart und bin komplett tätowiert. Das ist für die meisten Kinder anders als bei ihrem Papa, und das bricht auch immer schnell das Eis, weil die Kinder wissen wollen, warum ich mich jeden Tag bemale. Kinder fragen sofort direkt. Durchaus auch mehrmals. Und ich sage dann, dass ich die Zeichnungen am Arm nicht jeden Morgen neu machen muss und dass ich den Bart habe, weil ich ihn hübsch finde. Männer kennen sich in anderen Dingen aus. Gerade ist "Star Wars" groß. Die Kinder haben Spielzeug-Lichtschwerter dabei, und dann albere ich rum, ich sei Yoda oder so. Das kann ich besser als die Frauen, würde ich sagen. Dafür bin ich eine absolute Null im Fußball. Zwei Kolleginnen dagegen nicht, die eine hat im Verein gespielt, die andere spielt noch. Wir sind im Erziehungsteam unserer Kita drei Frauen und drei Männer. Rollenbilder interessieren uns nicht, auch nicht, ob die Jungs eher mit Autos und die Mädchen eher mit Puppen spielen. Wir achten mehr darauf, was das einzelne Kind macht, und dann fragen wir uns, wie wir uns da einbringen können. Immerhin, als Erzieher kann man vorleben, dass Männer die gleichen Sachen machen können wie Frauen: in der Küche stehen, aufräumen, Wäsche runterbringen. Sebastian Hanisch, 34, arbeitet seit zehn Jahren in der Kindertagesstätte "Die halben Meter" in Hamburg-Eimsbüttel. Er sagt, er wolle den Job mit den Kindern "bis ans Lebensende" machen. Fotos: oh

"Man kann den Kindern so viel mit auf den Weg geben"

Geld verdienen ist nie mein Hauptziel gewesen. Der niedrige Lohn hat mich also nicht abgeschreckt. Und einen Mann als Erzieher kannte ich aus meiner Heimat in der Oberpfalz auch. Ich kam also gar nicht auf die Idee, dass der Beruf nichts für Männer sein könnte. Po abwischen, umziehen, zusammen singen, das gehörte für mich einfach dazu. Vorurteile sind mir auch nie begegnet - bis ich vor drei Jahren den Kindergarten wechselte. Da hat mich das Missbrauchsthema mit einem Schlag erreicht. Eine Mutter wollte nicht, dass da ein Mann kommt. Ich habe sie direkt darauf angesprochen, danach war alles gut. Es sei einfach ein ungutes Gefühl gewesen, sagte sie. Insgesamt erfahre ich aber mehr Anerkennung als Vorurteile. Viele finden gut, was ich mache. Am liebsten arbeite ich mit Kindergartenkindern. Den Drei- bis Sechsjährigen kann man so viel mit auf den Weg geben! Manche Kinder sind schon skeptisch mir als Mann gegenüber, vor allem, wenn der Papa keine wichtige Bezugsperson ist. Aber das dauert zwei Wochen, dann merken sie: Der Markus ist auch für mich da. Sie sind dann meist besonders interessiert. Die Erzieherinnen sind ja doch oft ruhiger, ich bin stürmischer. Ich lieg da schon mal auf dem Boden und habe fünf Kinder auf mir. Die haben natürlich ihren Spaß. Die Kolleginnen lassen sich selten anstecken, aber das ist okay. Du musst als Erzieher sein, wie du bist. Authentisch. Nur dass die Erzieher für die Jungs da sind und die Erzieherinnen für die Mädchen - das ist totaler Quatsch. Oft sind die Mädels noch mehr auf mich bezogen. Die Jungs haben sich ja untereinander, den Mädels fehlt oft jemand zum Raufen. Die freuen sich, dass es mich gibt. Markus Linsmeier, 24, hat zuerst eine Ausbildung als Kinderpfleger gemacht und ist Erzieher im Anerkennungsjahr in der Kita Columbus in München. "In dem Job kann es einem gar nicht langweilig werden", sagt er.

"Manche meinen, dass Männer gefährlicher sind für Kinder"

Es kommt immer auf den Menschen an. Ich glaube, in gemischten Teams kommt man schneller zu Entscheidungen, weil die Kommunikation anders ist. Es ist nicht so, dass Männer besser Fußball spielen oder raufen können. Ich glaube aber, Kinder nehmen unterbewusst wahr, dass sie es mit einem Mann zu tun haben - dass das ein Teil der Identität ist. Es gibt ja viele Familien, die getrennt leben. Mütter sagen manchmal: "Das kann nur eine Mutter verstehen". Es wird oft angenommen, einer Frau wird Erziehung in die Wiege gelegt. Ein Mann muss das lernen. Auch im Team muss man seine Rolle erst finden. Wenn man der einzige Mann ist, wird man schnell zu dem, der repariert und trägt. Schwierig sind auch die Vorurteile, dass Männer tendenziell gefährlicher sind für die Kinder. In meiner Einrichtung haben wir das aber nicht, weil wir schon lange viele Männer haben. Eine gewisse Sensibilität ist trotzdem wichtig. Man geht viel bewusster mit Körperkontakt um. Wickeln, zur Toilette begleiten - man macht sich viel bewusster, dass andere Leute wahrnehmen, wie man sich in diesen Situationen verhält. Da müssen sich Frauen vielleicht weniger Gedanken machen. Wenn eine Frau voller Freude ein Kind in die Arme schließt - ich glaube, dass das anders gesehen werden kann, als wenn das ein Erzieher tut. Wobei ich auch das Gegenteil erlebt habe: Dass sich Eltern wirklich über Erzieher gefreut haben. Wenn ich frage: "Warum haben Sie sich denn für die Einrichtung entschieden?" Dann sagen mittlerweile einige: "Hier arbeiten auch viele Männer, das finden wir gut." Hier wird ja nicht nur gebastelt, sondern auch gewerkelt. Das Bild ändert sich, das merke ich. Andreas Schnelle, 26, Leiter der Katholischen Kindertagesstätte Liebfrauen in Düsseldorf. Manche Eltern begegneten ihm auch mit Enthusiasmus, erzählt er: "Das ist ja total super! Endlich mal ein männlicher Part."

"Ich habe mich immer unter Beobachtung gefühlt"

Ich bin schon 30 Jahre in diesem Beruf, und es hat sich vieles geändert, die Eltern, die Kinder, die Erziehungsmethoden. Nur eines ist immer gleich geblieben: Ich bin einer von wenigen Männer weit und breit. Wobei männliche Erzieher früher als alltäglicher wahrgenommen wurden. Nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte, habe ich in Berlin-Kreuzberg zusammen mit einem zweiten Mann einen eigenen Kinderladen aufgemacht. Wir hatten zeitweise 15 Wickelkinder, waren also zwei Männer mit vielen Babys - aber da hat keiner etwas gesagt. Das kann auch am Bezirk Kreuzberg liegen, in dem es immer schon liberal zuging. Heute spüre ich als einziger Mann in der Kita zwar keine direkte Ablehnung, aber manche Eltern gucken schon komisch, und wenn sie etwas zu besprechen haben, gehen sie zu meiner Kollegin. Auch vermeide ich es inzwischen, Kinder zu wickeln. Ich weiß noch, wie das war, als in den Neunzigern immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch aufkamen. Als Mann habe ich mich immer unter Beobachtung gefühlt. Nicht von den Eltern, aber von der Öffentlichkeit. Ich habe die Kinder nicht mehr auf den Schoß genommen und sie nicht umarmt, wenn sie sich wehgetan haben. Inzwischen habe ich mich an die Situation gewöhnt, und ich weiß, dass Kinder sich von ihren Bezugspersonen holen, was sie brauchen. Ich selbst bin in einem Heim groß geworden und habe erlebt, wie wenig mit uns Kindern unternommen wurde. Das wollte ich anders machen. Das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Betreuern in einer Kita sollte eines Tages halb-halb sein. So wie bei einem Elternpaar. Da sind in der Regel ja auch eine Frau und ein Mann für die Erziehung zuständig. Günter Bauermeister, 53, ist Erzieher in der Kindertagesstätte "Ingrids Kindergarten" in Berlin. Er liebt den Beruf, weil man "so viel Feedback bekommt und Kindern so viele Anregungen geben kann."

"Die Spontaneität der Kinder bringt mir Spaß"

Ich habe diesen Beruf im Zivildienst entdeckt. Ich machte eine Ausbildung zum Heilerzieher und arbeite nun seit vielen Jahren in einem Regelkindergarten, bei dem die Inklusion von Kindern mit Lerndefiziten ganz selbstverständlich dazu gehört. Es bringt mir viel Spaß, mich auf die Spontaneität der Kinder einzulassen. Wir arbeiten hier im Kindergarten der Werkstattschule in Rostock nach einem Konzept, bei dem wir die Lust der Kinder am Forschen fördern und sie viel selbst entscheiden lassen. Dazu gehört, dass ein Dreijähriger Fehler machen kann. Der Pädagoge muss hier die Priorität erkennen: Ist das perfekte Ergebnis wichtiger? Oder die Lust am Ausprobieren? Und es geht darum, Kinder stark zu machen, mit ihnen im Alltag Demokratie zu üben, sie zu ermutigen, ihre Meinung frei zu äußern. Ich finde es für unsere Arbeit letztlich relativ unerheblich, welches Geschlecht ein Erzieher hat. Aber ich glaube, dass männliche Erzieher es in einer Kita leichter haben. Sie werden von Kindern als interessanter wahrgenommen. Der Grund ist einfach: Sie sind eine Ausnahme, und die Kinder haben die Erwartung, dass die Erzieher mit ihnen wilde Sachen machen, ausgelassener sind. Es ist aus meiner Sicht gar nicht das Handwerkliche oder die Bastelei, sondern mehr die Lust, mal was anzustellen, auch mal unvernünftig zu sein. Sie wollen auch mal den Erzieher austricksen können, sich an ihm messen können. Solche Erlebnisse sind wichtig. Auch wenn das Geschlecht nicht entscheidend ist, sind mehr Männer in den Kitas gut und wichtig. Es wachsen so viele Kinder mit alleinerziehenden Müttern auf - da ist es gut für die Kinder, in der Kita einer männlichen Bezugsperson zu begegnen. Jürgen Rost, 47, hat den Beruf des Erziehers in den Neunzigern kennen gelernt. Heute ist pädagogischer Leiter am Kindergarten der Werkstattschule in Rostock. Das Konzept: Die Lust der Kinder am Forschen soll gefördert werden.

Der ständige Pädophilen-Verdacht ist schwer auszuhalten

Die langsame Veränderung mag auch daran liegen, dass die Vorurteile gegen männliche Erzieher immer noch groß sind - gerade auch bei den Eltern der Kinder. Dass Männer schon schwul sein müssten, um diesen schlecht bezahlten Frauen-Beruf zu ergreifen, gehört noch zu den harmloseren Klischees. Schlimmer ist der Verdacht, dass jeder Mann, der gerne mit Kindern zusammen ist, einen Hang zur Pädophilie haben müsse. Männliche Erzieher stehen meist unter besonderer Beobachtung von Eltern und Kolleginnen, sagt Jens Krabel von der Koordinierungsstelle "Männer in Kitas": "Der ständige tendenzielle Verdacht ist nicht leicht auszuhalten."

Wer sind die Männer, die trotzdem Erzieher geworden sind? Und weshalb haben sie diesen Berufsweg eingeschlagen, in dem sie eine Minderheit sind, wenig verdienen und oft Vorbehalten begegnen? Fünf Erzieher aus fünf deutschen Städten erzählen ihre Geschichte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2828734
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.01.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.