Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Leute, läutet die Glocken!

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Kurz vor der Krönung von Charles III. herrscht Unruhe im Vereinigten Königreich: Es gibt zu wenige Menschen, die am 6. Mai gemeinsam bimmeln können.

Von Martin Zips

Die Leserinnen und Leser der britischen Wochenzeitung The Ringing World beschäftigt das Thema schon länger: Für die etwa 38 000 Kirchenglocken im Vereinigten Königreich gibt es nicht genügend Glöckner. Nur hat das zuletzt kaum jemanden interessiert. Denn auch dort haben die Menschen mit Kirche immer weniger am Hut. Neben den bekannten Skandalen dürften dabei auch die Folgen der Pandemie sowie die Überalterung der Gesellschaft eine Rolle spielen. Aber jetzt, wo Charles III. am 6. Mai in London gekrönt wird, ist das schon ein Problem. Weil es die britische Tradition verlangt, dass an so einem herausragenden Tag wirklich alle Kirchenglocken auf der Insel zu bimmeln haben. Tatsächlich aber fehlen Hunderte Glöckner am Glockenseil.

Jetzt könnte aus Deutschland natürlich der Einwand kommen: Ach, das ist doch eh schon alles automatisiert. Und sollte in irgendeinem verlassenen britischen Kaff tatsächlich noch nicht der Computer die Macht über den Glockenturm übernommen haben, so wird sich schon jemand finden, der mal kurz am Seil zieht, sobald in der Westminster Abbey der güldene Metallkranz das silberne Haupthaar erreicht.

Doch so einfach ist das nicht.

Weil sich im 19. Jahrhundert nämlich infolge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholabhängigkeit gerade unter britischen Glöcknern eine gewisse Zügellosigkeit eingestellt hatte, war damals von einer Gruppe Geistlicher das sogenannte Wechselläuten eingeführt worden. Dieses verpflichtet die Glöckner zu höchster Konzentration und schafft - in akustischer Abstimmung mit benachbarten Gemeinden - eine eigene angelsächsische Kunstform. In ihrer Variationsfreudigkeit ist diese klanglich wesentlich ausgefeilter als beispielsweise das in Bayern übliche, von erschreckender Schlichtheit geprägte Bimmelbämmel.

Dank dieser Herausforderung kehrte nicht nur unter Großbritanniens Glöcknern, sondern auch in den meisten Ortschaften zwischen Pub und Schafstall endlich wieder Ruhe ein. Und so wacht seit 1891 "The Central Council of Church Bell Ringers" (CCCBR) über die hohe Kunst des Wechselläutens. Dieser Rat gibt auch das bereits erwähnte Zentralorgan The Ringing World heraus, welches schon im vergangenen Herbst auf die Folgen des Glöcknerinnen- und Glöcknermangels auch für die Allgemeinheit hingewiesen hatte. Doch erst jetzt, wenige Wochen vor der Krönung, scheint die Botschaft angekommen zu sein.

Immerhin: 1750 Neuglöcknerinnen und Neuglöckner sollen sich infolge eines Aufrufs bereits bei der "Association of Ringing Teachers" gemeldet haben. Dort hatte der Unterricht am Seil zuletzt 20 Stunden in Anspruch genommen. Dank modernster Online-Angebote sowie einer deutlichen Raffung des Lehrplans geht es nun auch etwas schneller. Wie beruhigend, dass sich die Zahl der Anfragen laut CCCBR mittlerweile verfünffacht haben soll.

Es gibt also noch Hoffnung, dass das Geläut, selbst in Zeiten von Säkularisierung und Ruhestörungsklagen, eine Zukunft haben könnte. Die BBC jedenfalls hat in der Grafschaft Suffolk gerade die 17-jährige Abiturientin Freja aufgetrieben, welche ihren Besuch des Anfängerkurses von Lehrerin Amanda Richmond keineswegs bereut. Sie habe dort wirklich nette Leute kennengelernt, meinte sie. Läute-Leute gewissermaßen. Und auch auf der CCCBR-Homepage versichert man: "Glockenläuten ist eine Teamaktivität, die das Gehirn stimuliert und dabei hilft, fit zu bleiben."

Vor diesem Hintergrund dürfte es für das Vereinigte Königreich ein Leichtes sein, alle noch freischwingenden Seile rechtzeitig zu besetzen.

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