Süddeutsche Zeitung

Kurioser Wettbewerb:Und es gibt Bielefeld doch!

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25 Jahre lang musste sich die wichtigste Stadt Ostwestfalens mit einer Verschwörungstheorie herumschlagen, die in der Küche einer Studenten-WG erdacht wurde. Doch damit ist jetzt Schluss.

Von Oliver Klasen

Man bräuchte wissenschaftliche Hilfe bei einem derart hochphilosophischen Thema, bei der Frage nach dem Sein und dem Nichts, bei der Frage also, ob Bielefeld wirklich existiert. Doch bei der Suche nach der erhofften Fachexpertise ereignen sich seltsame Dinge. Der Anruf bei einem berühmten Kenner von Jean-Paul Sartre, dem französischen Existenzphilosophen, schlägt fehl: Offenbar existiert der Anschluss zu der Telefonnummer nicht (mehr). Und wenn man auf den Seiten der Universität zu Bonn das Programm zu einem Symposium zu Sartres 100. Geburtstag nachlesen will, um auf diese Weise der Erkenntnis näher zu kommen, erhält man ebenfalls die Rückmeldung: "Diese Seite existiert leider nicht".

Man kann sich also nur an Pit Clausen halten, den Oberbürgermeister von Bielefeld. Der tritt, man kann das auf Videos im Internet verfolgen, an diesem Dienstag hinter einem eigens aufgebauten Rednerpult vor die Weltpresse, so als wolle er sogleich verkünden, dass er für den SPD-Vorsitz kandidiere, was Clausen theoretisch könnte, weil er SPD-Mitglied ist, was praktisch aber sinnlos wäre, weil die Bewerbungsfrist längst abgelaufen ist. Clausen hat ohnehin Größeres im Sinn. Es will ein für alle Mal aufräumen, mit den üblen Unterstellungen, er verwalte seit Jahren das blanke Nichts. "Bielefeld gibt es wirklich, und wie", sagt Clausen also.

Die Theorie, dass Bielefeld als solches nur ein Gerücht, eine Fata Morgana, mithin ein Produkt der Fantasie, stofflich also nicht existent sei, sie verfolgt Clausen schon seitdem er vor zehn Jahren ins Amt kam. Dass Clausen jeden Morgen zur Arbeit erschien und sich in ein Gebäude begab, das mutmaßlich das Rathaus der Stadt Bielefeld darstellte; dass Mitarbeiter einer Autobahnmeisterei glaubwürdig erscheinenden Augenzeugen zufolge mehrere blaue Schilder aufgestellt haben, auf denen das Wort "Bielefeld" zu lesen ist; dass, glaubt man der ewigen Tabelle der Fußball-Bundesliga, ein Verein existiert, der sich "Arminia Bielefeld" nennt; all das vermochte die Verschwörungstheoretiker nicht zu überzeugen, die 1994 in der Küche einer Studenten-WG die Theorie aufstellten, die wichtigste Stadt Ostwestfalens existiere in Wahrheit gar nicht.

Möglicherweise hat Clausen den österreichischen Philosophen Karl Popper gelesen. Der hat in der Wissenschaft die Theorie etabliert, dass neu gewonnene Erkenntnisse so lange als wahr zu gelten haben, bis sie durch weitere Forschungen falsifiziert werden. Das hat sich der Bielefelder Oberbürgermeister zunutze gemacht: Wenn es niemandem gelinge, die Hypothese "Bielefeld gibt es" zu widerlegen, dann wären alle Probleme gelöst.

Clausen und das Stadtmarketing schrieben also einen Wettbewerb aus. Zwei Wochen lang hatten Bielefeld-Leugner aus aller Welt Zeit, ihre Theorien darzulegen. Die Stadt fühlte sich derart sicher, dass sie sogar eine Million Euro auslobte für denjenigen, dem es wider Erwarten gelänge, wissenschaftlich fundierte Beweise zu erbringen, dafür, dass die Stadt nicht existieren solle. Ein Puddinghersteller und eine ortsansässige Kondomfirma, denen an der Existenz Bielefelds offenbar ebenfalls gelegen war, legten jeweils eine Million ihrer Premiumprodukte obendrauf, wie sie auf Twitter verlautbarten. Fußball-Zweitligist Arminia Bielefeld hätte sogar einen Platz im Kader vergeben, wenn ein Beweis überzeugt hätte.

Und dann unterlief den Bielefeld-Leugnern ein fataler Fehler

Es sei ein "spannender Wettbewerb" gewesen, doch nach Auswertung aller Einsendungen steht fest, dass keiner der Teilnehmer Erfolg gehabt habe, konnte der Oberbürgermeister am Dienstag triumphierend verkünden. Etwa 2000 wissenschaftliche Abhandlungen waren es, davon 350 aus dem Ausland, denn auch Medien wie die New York Times oder der britischen Guardian hatten über die Bielefelder Existenzfrage berichtet. Wobei an dieser Stelle zu bemerken wäre, dass den Einsendern gleich zu Beginn ihrer Argumentation ein fataler Fehler unterlief. Sie tappten in eine Falle, denn sie sandten ihre Beweisführung an eine E-Mail-Adresse, die der Stadt Bielefeld gehörte, was sie gar nicht hätten tun können, wenn es Bielefeld nicht gäbe. Sie widersprachen also der ersten Prämisse, die sie selbst aufgestellt hatten und ihre wissenschaftliche Autorität war mit einem Schlag dahin.

Nach diesem Lapsus war es für Stadtoberarchivrat Dr. Jochen Rath ein Klacks, etwa die mit historischen Karten unterlegte Argumentation mehrerer Einreicher auseinanderzunehmen, die das echte, wirkliche und tatsächlich vorhandene Bielefeld dadurch negieren wollen, dass es an gleicher Stelle in Ostwestfalen im Mittelalter einen Ort mit ähnlich klingendem Namen gegeben habe, der aber nie formell in Bielefeld umbenannt worden sei.

Der Stadtoberarchivrat war einer von mehreren Experten, die von der Stadt gegen die Bielefeld-Leugner in Stellung gebracht wurden und seine Expertise war lückenlos - vom Jahr 1214, als Richter Ratbert und Dinggraf Herrmann einen Rechtsbezirk Bielefeld etablierten, bis zum Bielefeld-Gesetz von 1972, als die Städte Brackwede und Sennestadt eingemeindet wurden und höchstamtlich festgeschrieben wurde: "Die Stadt erhält den Namen Bielefeld!" Auch seitenlange mathematische und quantenphysikalische Abhandlungen bereiteten der Stadt dank der herbeigerufenen Experten-Power der Uni Bielefeld keinerlei Probleme.

Wer es jetzt immer noch nicht glauben mag, für den hat die Stadt einen Gedenkstein platzieren lassen, 600 Kilogramm Gewicht, "Bielefeld-Verschwörung, 1994-2019" steht darauf, in Stein gemeißelt. Man weiß ja nie.

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