Süddeutsche Zeitung

Getöteter Vierjähriger:Belgiens nationales Trauma

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Nach den Kindermorden durch Marc Dutroux hatte Belgien Vorkehrungen getroffen, dass so etwas nicht mehr passiert. Jetzt zeigt sich an dem Fall eines getöteten Vierjährigen: Das System hat wieder versagt.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Wenn ein Kind getötet wird, erschüttert das die Menschen in jedem Land der Welt. In Belgien jedoch wird so ein Verbrechen noch einmal verstörender wahrgenommen, denn es rührt an ein nationales Trauma. Der Fall Marc Dutroux, der über Jahre hinweg Kinder und Jugendliche entführte, missbrauchte, ermordete, hat in den Neunzigerjahren das Vertrauen in den Staat erschüttert. Unfassbar wirkte damals das Versagen von Polizei und Justiz. Der Staat müsse alle Vorkehrungen treffen, dass so etwas nie wieder geschehen kann, hieß es. Nun ist der vierjährige Dean aus Beveren, Ostflandern, tot, mutmaßlich umgebracht offenbar von einem Wiederholungstäter, und der Staat muss sich fragen lassen: Hat er wirklich alles getan?

Die alleinerziehende Mutter Deans hatte den mutmaßlichen Täter Dave K. und dessen Lebensgefährtin in einer Therapiegruppe kennengelernt, sie litt an psychischen Problemen. Seit einem Jahr passte er auf das Kind auf, wenn die Mutter Hilfe brauchte, meist mittwochs. Am vergangenen Mittwoch aber war Dean samt Dave K. und dessen Lebensgefährtin plötzlich verschwunden. Die Mutter wartete bis Samstag, bis sie die Polizei informierte. Erst von den Beamten erfuhr sie offenbar, wem sie ihr Kind anvertraut hatte: Deans "Kuschel-Onkel", wie sie ihn nannte, hatte im Jahr 2008 einen zweijährigen Jungen zu Tode geprügelt. Erst 2020 war er aus der Haft entlassen worden.

Der Tatverdächtige führte die Polizei zur Leiche des Kindes

Dave K. wurde zur Fahndung ausgeschrieben und von der niederländischen Polizei am Sonntag in der Nähe von Utrecht gefasst. Er führte die Beamten am Sonntag zu dem Ort, an dem er Dean abgelegt hatte: an einer abgelegenen Straße der niederländischen Küstenprovinz Zeeland. Der 34-Jährige sitzt nun in Untersuchungshaft, auch seine Lebensgefährtin wurde festgenommen. Wie genau Dean zu Tode gekommen ist, haben die Justizbehörden noch nicht bekannt gegeben, aber die Frage, wie das Verbrechen hätte verhindert werden könnten, beschäftigt nun das ganze Land.

Die Hilfsorganisation "Child Focus" hat sich darüber beklagt, sie sei nicht vom Verschwinden Deans informiert worden. Sie war als Reaktion auf den Fall Dutroux hin gegründet worden und ist darauf spezialisiert, schnelle Suchaktionen zu starten, zum Beispiel über die sozialen Netzwerke. Man habe von dem Fall Dean aus der Zeitung erfahren, teilte "Child Focus" mit. Warum, das müsse man klären, unabhängig von der Frage, ob man den Jungen hätte retten können. Denn es gibt eine Vereinbarung mit den Sicherheitsbehörden, dass die Organisation in solche Fälle sofort eingeschaltet wird.

Der mutmaßliche Täter stand trotz seiner Vorstrafe nicht unter staatlicher Aufsicht. Er hatte nach dem Tod des zweijährigen Miguel keinerlei Reue gezeigt und die Tat mit seiner Drogensucht entschuldigt. Deshalb musste er die volle Strafe von zehn Jahren Haft verbüßen, was zur Folge hatte: Der Staat hatte, anders als nach einer Freilassung auf Bewährung, keine Handhabe mehr, ihn nach der Entlassung in irgendeiner Form zu kontrollieren. Erst seit dem Jahr 2012 gibt es ein Gesetz, das es ermöglicht, Tätern auch nach vollständig verbüßter Strafe eine Therapie zu verordnen, oder ihnen beispielsweise den Umgang mit Kindern zu verbieten. Diese neue belgische Rechtslage konnte auf Dave K. noch nicht angewendet werden. Ähnliche Regeln formuliert im deutschen Strafrecht die "Führungsaufsicht", die bei bestimmten Straftaten wie etwa Sexualdelikten bereits bei der Verurteilung angeordnet werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass der Täter weitere Straftaten begeht. Das Verhalten des Verurteilten wird für eine gewisse Zeit überwacht, gleichzeitig kann angeordnet werden, dass er etwa bestimmte Orte meiden muss.

Es sind traurige Tage für Belgien, auch für den Innenminister, der einräumen musste: Dave K. habe während seiner Haft selbst um eine Therapie gebeten. Aber man habe keinen geeigneten Platz für ihn gefunden.

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