Süddeutsche Zeitung

Bahnreisen:Neue Schlafwagen für Russland

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Von Silke Bigalke

Es bahnt sich eine Revolution an auf den russischen Schienen. Neue Schlafwagen für die dritte Klasse, das betrifft in Russland fast jeden. Der TV-Reporter klopft auf die nagelneuen Polster, hält die Retro-Teegläser in die Kamera. Jeder Passagier bekommt am Bett einen Lichtschalter und eine Steckdose. Und auf den Toiletten gibt es bald Flüssigseife und Wickeltische, das hatten sich viele gewünscht. Der Reporter ist nicht der einzige, der das Wunder bestaunt. Die Nachricht vom neuen Wagen geht landesweit durch die Medien.

Verstehen kann das, wer die alten Schlafwagen kennt. Die "Platzkart" ist in Russland die günstigste Art zu reisen. Schon für 70 bis 80 Euro kommt man so von Moskau nach Wladiwostok, in knapp sieben Tagen. Die Frage ist nur, wie man dann dort ankommt. Denn die dritte Klasse bietet wenig Platz, noch weniger Komfort und überhaupt keine Privatsphäre. 54 Betten in einem Waggon, da hat man schon mal die löchrige Socke des Bettnachbarn auf dem Kopfkissen. Unangenehm auch, wenn die Reisegruppe von nebenan den Zug mit der Sauna verwechselt und die Hülle fallen lässt. Die alten Schlafwagen haben nicht mal Duschen.

Richtige Vorhänge statt Provisorien aus Bettlaken

Früher, als man noch Nokia-Handys statt Smartphones nutzte, gab es diesen Witz über die dritte Klasse. Nokia warb damals mit dem Spruch "Connecting people", auf dem Werbefoto strecken sich zwei Hände einander entgegen, wie Gott auf Michelangelos "Die Erschaffung Adams" seine Hand nach dem Menschen ausstreckt. Im Schlafwagen kann man kaum durch die Gänge gehen, ohne gegen ausgestreckte Gliedmaßen zu stoßen. Weil die Betten nur etwa 1,65 lang sind, hängen Füße und Arme über, stoßen in der Mitte zusammen. "RZD - connecting people", spottete man. RZD ist die Abkürzung für das staatliche Eisenbahnunternehmen.

Soll nun bald Schluss sein mit der Nähe? Olga Butenko zieht einen blickdichten, grauen Vorhang vor ein brandneues Schlafwagenbett. Bisher haben die Menschen mit Laken improvisiert. "Wir haben erkannt, dass Privatsphäre unseren Passagieren sehr wichtig ist", sagt die Bahnsprecherin.

Das neue Design für die billigen Plätze kann man auf einer Transport-Messe im Moskauer Zentrum besichtigen. Zwischen Ständen von Rüstungsfirmen und Schifffahrtsunternehmen ist ein kleines Stück vom neuen Zugabteil nachgebaut. Das ist auf der Messe schon genauso überlaufen, wie man es aus manch echten Zügen kennt. Messe-Besucher in Anzug und Krawatte liegen auf den schmalen Betten Probe. Eins wird dabei auf den ersten Blick klar: Mehr Platz gibt es auch in Zukunft nicht. Gut, man kann die Füße nicht mehr nach Herzenslust in den Gang strecken, das verhindern neue Leitern in Holzoptik, die die alten Trittstangen aus Metall ersetzen sollen. Auch die Betten sind nicht länger geworden. Man schlafe ohnehin meist mit angezogen Knien, sagt die Bahn-Sprecherin pragmatisch. Immerhin bald auf Schaumstoffmatratzen statt auf den alten abwaschbaren Plastikmatten. In den neuen Wagen soll es sogar Duschen geben. Ob bei so viel Komfort auf den billigen Plätzen überhaupt noch jemand erste Klasse fahren will?

Die Russen haben ihre eigenen Rituale für lange Bahnreisen

Die Bahn-Sprecherin ist sich sicher: Die Russen fahren auch deswegen mit Platzkart, weil sie gerne Kontakt zu anderen Menschen haben. Da mag etwas dran sein. Fast jeder kennt in Russland die kleinen Rituale, die die langen Strecken erträglich machen. Hart gekochte Eier als Proviant und gegrilltes Hähnchen müssen unbedingt dabei sein, denn beides hält sich auf dem weiten Weg. Oder die alten dicken Teegläser in den metallenen Haltern: Das warme Wasser gibt es umsonst im Boiler am Ende des Wagens, die Teebeutel bringen sparsame Reisende selber mit.

Wenn der Zug weit draußen nur kurz hält, verkaufen Frauen aus den Dörfern Hühnchen und Obst durchs Fenster oder bieten Gebäck und Räucherfisch an kleinen Ständen am Bahnsteig an. Auf dem Rückweg, etwa von Sotschi nach Moskau, haben die Menschen früher Eimer voller Obst, Aprikosen und Kirschen an der Strecke gekauft und im Zug nach Hause gebracht.

Wann und wo die neuen Wagen fahren, ist noch unklar

Wann also zieht die Zukunft ein in die dritte Klasse? Noch in diesem Jahr soll der erste Wagen im neuen Design fertig werden. Wo und wann er fährt, sei noch nicht entschieden. Auch nicht, wie viele neue Wagen es wann geben soll. Nicht mal, ob sie dann wirklich so aussehen, wie auf der Messe zu bewundern ist. Das Konzept wird noch getestet.

Den Schlafwagendesigner Dmitrij Nasarow hat das Internetportal Meduza neulich gefragt, ob er denn glaube, dass die Menschen auch in seinem Zug gemeinsam am Tisch sitzen und Eier und Hähnchen essen werden. Ja, hat er geantwortet. Die Hauptsache sei, dass sie sich danach nicht die Hände an den neuen Vorhängen abwischten.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2018
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