Süddeutsche Zeitung

Amokfahrt in Münster:Die letzte, vielleicht einzige, große Aufmerksamkeit

Lesezeit: 2 min

In einer Zeit, in der Abermillionen über Smartphones vernetzt sind, gehört die grenzenlose Verbreitung der Tat zum Kalkül von Terroristen und Psychopathen.

Kommentar von Kurt Kister

Einen wirklichen Schutz gegen die tiefsten Abgründe der Seele gibt es nicht. Wenn jemand so verzweifelt ist oder so krank oder so verblendet, dass er seinen eigenen Tod über die Leichen anderer inszenieren will, dann wird er Mittel und Wege finden, dies zu tun. Der sogenannte erweiterte Suizid ist oft eine Beziehungstat, manchmal kann er zum Massenmord werden wie beim mutwillig herbeigeführten Absturz des Germanwings-Flugzeugs mit 150 Toten vor drei Jahren. Tötung und Selbsttötung haben jetzt in Münster aus einem sonnigen Samstagnachmittag ein Horrorszenario gemacht.

Leider gibt es immer wieder Menschen, darunter auch Politiker wie die schreckliche Juristin Beatrix von Storch von der AfD, die mal aus Dummheit, mal aus Böswilligkeit, mal aus ideologischen Gründen solche Tragödien weltanschaulich zu instrumentalisieren versuchen. An dieser Debatte beteiligen sich mit nahezu Übel erregender Sicherheit die üblichen Verdächtigen, also die von sich und ihrer Überzeugung Besessenen, egal ob sie rechts oder links stehen. Das beginnt eine Minute nach der Tat in den sogenannten sozialen Medien und setzt sich dann auf allen Kanälen fort. Dieses Geschrei ist im Übrigen etwas, auf das mutmaßlich die weitgehend hoffnungslosen Täter, die Amokfahrer und -schützen hoffen: Sie geraten, wenn auch nach ihrem Ableben, so in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Leben im herostratischen Zeitalter: Heute ist jeder sein eigenes Massenmedium

Der von jeder Moral losgelöste Wunsch, es im Sinne des Wortes einmal allen zu zeigen, lässt sich heute so umfassend erfüllen wie nie zuvor in der Geschichte. Die Vernetzung von Abermillionen Menschen über Taschentelefone bringt mit sich, dass die Herstellung von Öffentlichkeit theoretisch keine Grenzen mehr kennt. Für auf die Öffentlichkeit zielende Verbrechen heißt dies: Je blutiger sie sind, je sensationeller ihre Umstände (Amok in einer friedlichen Kleinstadt zum Beispiel oder Geiselnahmen in einem Supermarkt), desto schneller und weiter werden sie sich verbreiten. Dies gehört zum Kalkül islamistischer Mörder, zur Planung rechtsradikaler Terroristen - aber eben auch zu den Tatgedanken eines Selbstmörders, der die letzte, vielleicht einzige, große Aufmerksamkeit sucht.

Nein, das bedeutet nicht, dass "das" Internet "schuld" ist an monströsem Terrorismus oder an blutigen Handlungen von Einzeltätern. Aber solche Taten finden eben nicht mehr nur vor dem Hintergrundrauschen durch vermeintliche Massenmedien statt. Heute ist jeder sein eigenes Massenmedium, und das virtuelle Dabeisein steht im Vordergrund bei solchen Ereignissen. Etliche dieser herostratischen Taten werden nur deswegen verübt, weil sie jene unbegrenzte Öffentlichkeit erzeugen. (Herostratos zündete 356 v. Chr. den Weltwunder-Tempel in Ephesos an, um in die Geschichte einzugehen. Es ist ihm gelungen.)

Betonpoller werden das Sicherheitsgefühl erhöhen, und manche Veranstaltung lässt sich durchaus besser abschirmen. Wenn aber jemand von einer öffentlichen Straße aus auf den Gehsteig fährt, um sich und andere zu töten, lässt sich wenig dagegen machen. Und wer darauf hofft, dass bei der Verbreitung und Bewertung eines solchen schrecklichen Geschehens Zurückhaltung geübt werde, der hat noch nicht verstanden, dass auch Herostratos heute ein Smartphone hat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3935759
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.04.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.