Süddeutsche Zeitung

Wolfratshauser Geschichte:Entnazifizierung und Nylons

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Für die Revue "Als die Amis ins Isartal kamen" sucht der Historische Verein Wolfratshausen Zeitzeugen und Objekte

Von Benjamin Engel, Wolfratshausen

Aus den Wirtshäusern dringen ungewohnte Klänge: Im Wolfratshauser Hader- oder im Humplbräu spielen Jazzmusiker. Kinder freuen sich über geschenkte Kaugummis oder Orangen. Nachdem US-amerikanische Soldaten Ende April 1945 ins Isartal vorgerückt sind, prallen unterschiedliche Welten aufeinander. Das gilt insbesondere für kulturelle Einflüsse. Gleichzeitig blühen in der Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit die Schwarzmärkte. Dort werden Nylon-Strümpfe und US-Zigaretten zur begehrten Tauschwährung für Lebensmittel und mehr. Die Besatzungssoldaten setzen belastete Amtsträger der Nazi-Dikatur ab. Beim Einmarsch kommt es aber auch zu Vergewaltigungen.

In der Revue "Als die Amis ins Isartal kamen" will der Historische Verein Wolfratshausen die Zeit des Kriegsendes und des Neubeginns vor 75 Jahren thematisieren. "Es ist ein Spannungsfeld zwischen sehr ernsthaften Themen wie Entnazifizierung und Vergewaltigung und softeren Themen wie Mode, Musik und Esskultur", erklärt dessen Vorsitzende Sybille Krafft. Eine Arbeitsgruppe bereitet die für den 21. November in der Loisachhalle geplante Revue vor. Auf der Bühne sollen Zeitzeugen auftreten. Unterhalten sollen Tanzeinlagen oder Musik von einer Big Band.

Wer die Zeit zwischen 1945 und 1955 miterlebt hat, zählt heute zu den Senioren. Daher versteht der Historische Verein die Recherche für die Revue als wichtiges Dokumentationsprojekt. Diejenigen, die sich noch aktiv erinnern könnten, würden weniger, sagt Krafft. "Wir wollen das für die Nachwelt festhalten, die wertvollen Erinnerungen und Schätze nicht verloren gehen."

Die Vereinsvorsitzende ruft die Bevölkerung im Isartal zwischen Schäftlarn und Königsdorf auf, sich bei ihren Mitstreitern zu melden. Für den Verein seien interessante Begegnungen und Erfahrungen mit US-Amerikanern gegen Kriegsende und in der Nachkriegszeit gefragt. So sucht der Historische etwa auch nach Personen, die US-Amerikaner geheiratet haben oder Menschen, die in die USA ausgewandert sind. "Das können auch Eltern oder Großeltern sein", sagt Krafft.

Zeitzeugen können ihre Erlebnisse entweder selbst aufschreiben oder, wenn sie das nicht möchten, den Mitgliedern der Arbeitsgruppe erzählen. "Wir sammeln alles, was zur Amerikanisierung im Isartal zu finden ist", schildert Krafft. Das können Fotos, Dokumente, Kleidung oder Objekte sein. Als Beispiel nennt Krafft etwa die Schachtel eines Care-Paketes, das die Wolfratshauser SPD-Stadträtin Roswitha Beyer dem Badehaus-Verein geschenkt hat. Care steht für "Cooperative for American Remittances to Europe". In diesen Paketen kamen Nahrungsmittel US-amerikanischer Hilfsprogramme nach Europa.

Für die Mitglieder des Historischen Vereins fängt die intensive Recherchezeit erst an. Der zweite Vorsitzende, Bernhard Reisner, sucht im Wolfratshauser Stadtarchiv etwa nach Zeitungsartikeln oder Dokumenten wie Verordnungen der Militärregierung. Zudem gehe es ihm um die Kommunikation mit dem Lager für Displaced Persons (DP), Überlebende der Schoah, im heutigen Stadtteil Waldram.

Die Arbeitsgruppe will verstehen, wie sich etwa Schwarzpreise auf dem Schwarzmarkt gebildet haben. Justine Bittner beschäftigt sich mit Themen rund um die Mode oder Frisuren, "Lifestyle im weiteren Sinne", wie sie selbst sagt. Hannelore Greiner beschäftigt sich mit der Musik und der Situation der Frauen beim Einmarsch der US-Soldaten. Anja Brandstäter berichtet davon, dass die US-Amerikaner vor allem Kinder gemocht hätten. Für Saltos ins Wasser hätten Kinder von den Besatzern etwa Kaugummis oder Orangen bekommen. Erwachsene seien dagegen eher unbeliebt gewesen. Zum Aufkommen US-amerikanischer Sportarten wie Basket- oder Baseball will Klaus Lüth recherchieren.

Zur Revue am 21. November moderiert Kabarettist Klaus Steigenberger. Karten können schon bei München Ticket und der Stadt Wolfratshausen bestellt werden. "Es soll ein Augenschmaus werden", sagt Krafft.

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SZ vom 29.01.2020
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