Süddeutsche Zeitung

Der Winter kommt:Ruhe am internationalen Drehkreuz

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Weil am Starnberger See außergewöhnlich viele Vögel überwintern, kommt dem Gewässer eine besondere Bedeutung zu. Vor allem Wassersportler müssen deshalb Rücksicht nehmen.

Von Elisa Henning, Münsing/Starnberg

Bilder von einem überfüllten Starnberger See haben sich in diesem Sommer ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Unzählige Ausflügler haben dort ihren "Urlaub dahoam" verbracht. Doch während diese Gäste inzwischen wieder in ihrem Alltag zuhause angekommen sein dürften, beginnt jetzt im Herbst am See die Hochsaison für Erholungssuchende der anderen Art. Und bis zu 25 000 von ihnen werden dazu eine meist weite Reise auf sich nehmen, nämlich vom hohen Norden bis zum oberbayerischen Gewässer: Wasservögel.

Dass so viele Vögel am Starnberger See rasten und überwintern, sei wenigen Menschen bewusst, erklärt die zuständige Gebietsbetreuerin des Landesbund für Vogelschutz (LBV), Andrea Gehrold. "Die Leute denken, im Winter ziehen die Vögel in den Süden. Die meisten fragen mich: 'Und, sind noch ein paar Vögel da?' Da kann ich nur antworten, jetzt geht's erst richtig los!" Genau deswegen brauche der Starnberger See im Winter besonderen Schutz. Insbesondere sollte kein Wassersport stattfinden, um störungsfreie Rückzugsorte für die Tiere zu schaffen.

Die internationale Bedeutung des Starnberger Sees zeigt sich unter anderem durch die Aufnahme des Gewässers in die Liste der sogenannten Ramsar-Gebiete, ein weltweites Schutzgebietsnetz für besondere Feuchtgebiete. Zudem wurde das Gebiet in das zusammenhängende europäisch- ökologische Netz "Natura 2000" aufgenommen.

Das Gewässer friert im Winter fast nie zu, somit bleibe die Nahrung für die Vögel erreichbar. Gehrold betont die Funktion des Gewässers als Drehkreuz für den internationalen Vogelzug: "Unsere häufigsten Vögel sind Blessrallen, das sind Zugvögel aus dem europäischen Umland. Allein davon haben wir im Winter teilweise über 10 000", erzählt sie. Vögel, die beispielsweise in Skandinavien oder in Osteuropa brühten, müssen im Winter weiterziehen, weil es dort zu kalt sei. Als zweithäufigste Art am Starnberger See nennt Gehrold die Reiherente. Diese sei ein "richtiger Langstreckenflieger" aus Osteuropa, es gebe sogar Ringfunde bis aus Sibirien. Vögel werden so markiert, was sie individuell identifizierbar macht, wenn sie beispielsweise durch Jagd geschossen werden oder der Ring durchs Fernrohr abgelesen wird. "Das ist total spannend. Dadurch kann man beispielsweise sehen, der Vogel wurde in Russland beringt und ist dann ein halbes Jahr später bei uns hier, tausende Kilometer weiter. Auch das Alter und die individuelle Geschichte des Tiers lässt sich nachvollziehen", erklärt die Gebietsbetreuerin.

Während also zum Winter hin die heimischen Sommervögel weiterziehen, kommen die Gäste aus dem hohen Norden. Ein paar Ausnahmen, die es sich am Starnberger See das ganze Jahr über gemütlich machen, bestätigen die Regel. Laut LBV Starnberg sinkt die Anzahl der Wasservögel in den Sommermonaten auf weniger als 2000. Dadurch könne der See im Sommer fast uneingeschränkt von Menschen genutzt werden. Von November bis März sollte aber Ruhe einkehren. Entsprechend gelte in dieser Zeit ein freiwilliger Befahrungsverzicht. Segler und Werftbetreiber, aber auch Surfschulen, SUP- und Bootsverleiher stellten ihren Betrieb dann gänzlich ein und leisten so einen maßgeblichen Beitrag zum Vogelschutz. "Die halten sich wirklich super dran, aber meine Aufgabe ist es natürlich auch, einzelne Wassersportler darauf hinzuweisen", erklärt Gehrold. Da jede einzelne Befahrung hunderte oder gar tausende Vögel aufschrecken könne, sind auch private Wassersportler angehalten, Rücksicht zu nehmen. "Lassen Sie von November bis März auf den großen Voralpenseen Ruhe einkehren und weichen Sie in dieser Zeit bitte auf andere Gewässer aus", so das Anliegen der Gebietsbetreuerin. Die meisten Wassersportler seien sehr naturverbunden, das beruhige sie.

Sorgen bereiten Gehrold eher die durch das Corona-Jahr neu dazugekommenen Wassersportler: "In diesem Winter möchte man vielleicht nicht nach Frankreich zum Skifahren fahren, sondern vor der Haustür den im Sommer neu entdeckten Sport betreiben." Flache, ufernahe Gewässerbereiche müssten aber in jedem Fall gemieden werden, "denn nur hier können die Enten ihre Nahrung erreichen." Am Starnberger See betrifft das beispielsweise die Umgebung der Roseninsel, den Karpfenwinkel und die Süd- und Nordbucht. Im Zweifelsfall gilt: Abstand halten. Mindestens 300 Meter sind nötig, um die scheuen Zugvögel nicht aufzuschrecken. Spaziergänger, auch mit Hund, müssen sich am Ufer indes nicht großartig einschränken. Kritisch werde es nur bei Befahrungen auf dem Wasser.

Die Ruhe auf dem See bedeutet für die Ornithologin ironischerweise besonders viel Arbeit. Monatlich fänden Wasservogelzählungen statt, das zuständige Team bestehe aus großteils ehrenamtlichen Mitarbeitern. Ausgestattet mit meist sechs Zähluhren - je Vogelart ein Zähler - "klickert man sich da halt so durch, ein paar tausend Mal", erklärt Gehrold. Doch auf die Vogelbeobachtung im Winter freut sie sich besonders: Dann entdecke man riesige Vogelschwärme und manchmal auch besonders seltene Arten, die so im Binnenland fast nie zu sehen seien. "Das ist schon ein Erfolgserlebnis, wenn man dann so eine besondere Art entdeckt."

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SZ vom 02.11.2020
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