Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Münchner sind Rechnungswesen

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Obwohl unser Autor in Nigeria in der Schule schlecht in Mathe war, lernt er in seiner neuen Heimat mit Zahlen umzugehen.

Kolumne von Olaleye Akintola

Das Inserat stand auf einer Webseite für Wohnungsanzeigen, "Stachus, 4 Zi, 120 m2, WM 1.250, Garage 6×6, Balkon 10×10". Diese Anzeige bereitete mir migräneartige Zustände. Ich war versucht zu glauben, dass es sich hierbei mehr um eine Stellenanzeige für einen Statistiker handelte als um eine Wohnungsannonce.

Ich war in der Schule so ein schlechter Mathematikschüler. Wenn ich Zahlen addierte, hätte man das Ergebnis genausogut auswürfeln können. Mein Auge für Zahlen wurde etwas geschärft, als das Thema Geld für mich und meine Mitschüler relevant wurde. In Bayern wurde ich schließlich motiviert, einen Weg zu gehen, den ich stets vermieden hatte. Den Weg des Rechnens.

Die Qualen beginnen mit der Berechnung von Zeit und setzen sich fort bei der Bemessung von Quadratmetern und Erklärung von Steuern. Anfangs kam ich mir in München vor wie ein Analphabet unter Literatur-Professoren. In München braucht keiner einen Taschenrechner; in Lichtgeschwindigkeit rechnen sich die Menschen durch ihre Stadt. Kilometer, Zoll Zentimeter. Hätte ich den Mathematikunterricht von einst nur etwas beherzter absolviert.

Je mehr Zeit sich in der neuen Heimat addiert, umso ausrechenbarer wird diese. Irgendwann macht man sich Gedanken über die Frage, wie sich die Inflation wohl auf den Bierpreis beim nächsten Oktoberfest auswirkt. Wo doch die Rechnungen und Steuern einen erheblichen Teil des monatlichen Einkommens aufzehren. Das Instrument des Steuerrückerstattungsverfahrens war für mich trotz diverser Rechenaufgaben eine famose Entdeckung. Einige Arbeitnehmer wagen es gar, ihre Lohnabrechnungen mit denen von Kollegen zu vergleichen. Gemeinsam rechnen sie nach, damit der Arbeitgeber sie nicht übers Ohr haut.

Der Münchner ist ein Rechnungswesen. Es sieht so aus, als hätte jeder einen eingebauten Taschenrechner samt Thermometer im Kopf. Kommt der Winter hört man sie in Gesprächen über die Skisaison mit Schneehöhen und Temperatur-Angaben fachsimpeln. Manchen reicht das nicht aus, also hängen sie sich ein Zweit-Thermometer vors Fenster. Oder sie laden Wetter-Apps aufs Handy. Als könne man dadurch das Wetter davon abhalten, sich daneben zu benehmen. Wenn es darum geht, muss man in Bayern allerdings mit fast allem rechnen.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

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Quelle:
SZ vom 22.10.2021
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