Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Radfahren ist fast so spannend wie eine Frau

Lesezeit: 2 min

In Syrien, der Heimat unseres Autors, gilt Radfahren als vulgär. In München entdeckte er neue Möglichkeiten.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Als ich mit meinen Freunden in einem Auto aus Budapest kommend in Deutschland in der Stadt Passau ankam, hatte ich nicht viel Geld. Mein Ziel war München, doch ich konnte mir kein Zugticket leisten. Da sah ich am Bahnhof Fahrräder aufgereiht. Es musste sich um eine Art Basar handeln. In einem Burschen, der eines der Fahrräder aufschloss, sahen ich und meine Mitankömmlinge den Händler. Wir würden gerne Fahrräder kaufen? Er zeigte uns einen Vogel und fuhr weg. Es war kein Basar, sondern ein Parkplatz für Fahrräder.

Wo ich meine Reise begonnen hatte, sind Fahrräder rar. Als Kind war ich einer der wenigen Jungen im Dorf, der ein Fahrrad hatte. Mein Onkel hatte es auf einer Reise nach Saudi-Arabien gekauft und mir geschenkt. Ein blaues Kinderfahrrad, mein ganzer Stolz. Wenn ich nicht damit rumflitzte, putzte ich es, mindestens einmal am Tag. Ich dekorierte es mit Ketten, Lichtern und einem Metallherz. Meine Mutter fragte mich einmal, warum ich das Fahrrad nicht mit ins Bett nehme. Es war eine berechtigte Frage.

Im Erwachsenenalter wird einem in Syrien das Radfahren eher wieder abgewöhnt. Es gilt als vulgär und wird von vielen als Offenbarung von minderwertigem Geschmack und Wohlstand interpretiert. Umso mehr ging mir ein Herz auf, als ich München kennenlernte. Eine Stadt von Radfahrern.

Mein erstes Leihrad in München ließ mich schnell spüren, wie sehr ich die Kombination aus einem neuen Gefährt und einer neuen Stadt unterschätzt hatte. Es ist durchaus anders, als in einem syrischen Dorf auf Feldwegen herumzukurven. Nein, es ist sehr viel anders. Nach 15 Minuten gab ich das Fahrrad zurück.

Kirchseeon, der Ort, der meine neue Heimat wurde, hat ein Rathaus, in dem man sich für einen Fahrradführerschein anmelden kann. Das machte ich alsbald - und so näherte ich mich dem Fahrradfahren im Münchner Verkehr mit all seinen Regeln an. Mittlerweile trage ich Helm, Sportbrille und windschnittige Kleidung.

Die Ehe ist eine wunderbare Erfindung, aber das ist ein Fahrradflickkasten auch. Das sagte einmal der schottische Komiker Billy Connolly. Ich finde ihn zitierfähig, drückt er doch die große Zuneigung aus, die man für ein Fahrrad empfinden kann. Ich besitze mittlerweile ein eigenes Fahrrad, an meine Frau kommt es aber dennoch bei Weitem nicht heran. Sie ist Syrerin und hat mittlerweile auch Radfahren gelernt. Was in ihrer Heimat ungefähr so wäre, als würde eine Frau in München nackt spazieren gehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4872950
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.04.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.