Süddeutsche Zeitung

Theater:Stummer Schrei des Schreckens

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Das Theaterstück "Marienplatz" beruht auf dem wahren Fall einer Selbstverbrennung in München. Die Premiere zeigte das Residenztheater im Stream

Von Egbert Tholl

Einmal fällt hier ein Satz, der vielleicht viel erklärt, vielleicht auch nicht. Er lautet "esse est percipi" - "Sein ist wahrgenommen werden". Am frühen Morgen des 19. Mai 2017, als die Nacht in den Tag überging, fährt ein Mann in München zum Marienplatz, übergießt sich mit Benzin und zündet sich an. Er stirbt - und niemand nennt seinen Namen. Er stirbt, als kaum jemand Zeuge der Tat werden konnte. Man weiß sein Alter, mehr nicht. Namenlos erhält er nun ein Stück, "Marienplatz" von Beniamin M. Bukowski, in einer Streampremiere herausgekommen am Residenztheater. "Esse est percipi." Angesichts dieser Premiere hat George Berkeley, denn dieser hat dieses Prinzip so formuliert, doch ein bisschen recht.

Im selben Jahr, ein paar Monate später, verbrannte sich Piotr Szczęsny vor dem Kulturpalast in Warschau, um ein Zeichen zu setzen gegen die Politik der in Polen herrschende PiS-Partei, gegen den Ausverkauf der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Bürgerrechte. Das erfährt man aus dem Programmheft. Und am Morgen des 6. März 2003 verbrannte sich der 18-jährige Zdeněk Adamec auf der Treppe des Nationalmuseums auf dem Prager Wenzelsplatz - an der Stelle, wo sich 1969 Jan Palach und Jan Zajíc verbrannt haben. Sie töteten sich aus Protest gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen und die Niederschlagung des Prager Frühlings. Bei Adamec sind die Gründe der Tat dunkler, verworrener. Man bekam sie nicht zu fassen. Dann fiel er dem Vergessen anheim, bis ihn im Sommer dieses Jahres Peter Handke zurück in die Öffentlichkeit holte. Für die Salzburger Festspiele schrieb er "eine Szene", die als Titel schlicht Adamecs Namen trägt und die Jossi Wieler in der kurzen Theaterblüte zwischen den Lockdowns im Oktober am Deutschen Theater Berlin zu einer Poetik des Fragens und der feinen Mutmaßung veredelte.

Bukowski, geboren 1991 in Poznaň, kam im Rahmen des Programms "Welt/Bühne" für internationale zeitgenössische Dramatik für zwei Monate nach München und schrieb fürs Residenztheater sein Stück. In diesem geht er ein bisschen ähnlich vor wie Handke, entwirft also ein Spiel der Mutmaßungen, doch bei ihm sind diese stets Spiegel der Betrachter, also der Zuschauer, des Theaters und des Autors selbst. Das führt zu lustigen Dramaturgiesitzungen, in denen keine der Beteiligten Lust hat, mit "dem Polen" zu arbeiten, den sie mit Butterbrezen nach München gelockt haben, zu einem Telefonat mit der besorgten Mama in Polen, zu unserer Gegenwart und den vielen apodiktischen Sätzen, die in dieser herumschwirren. Der Tote vom Marienplatz schrieb zwei Sätze auf sein Auto: "Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen." Und: "Amri ist nur die Spitze des Eisbergs." Anis Amri war am 19. Dezember 2016 mit einem Sattelzug in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche gerast. Was wollte der Tote vom Marienplatz? Was bedeuten die beiden unvereinbar wirkenden Sätze?

Der in Ungarn geborene Regisseur András Dömötör nimmt Bokowskis am Rande einer Verzweiflung entstandene Komik und stülpt sie beherzt nach außen. Beide, Autor und Regisseur, kennen sich aus in Ländern, denen die Demokratie abhanden kommt. In Deutschland können sie nun den Urschlamm davon betrachten, aber richtig giftig wird der leider nie. Sigi Colpe hat eine lustige Mischung aus Christkindlmarkt und Spielplatz auf die Bühne gestellt, Liliane Amuat, Nicola Kirsch, Thomas Lettow, Hanna Scheibe und Myriam Schröder sind in bunte Wattejacken gepackt und bemerkenswert guter Dinge, Moritz von Treuenfels ist zwischen ihnen der Autor auf der Suche nach seinem Stück. Und wenn man nicht mehr weiter weiß, fragt man Gott, aber der sitzt am Ende bei seiner Therapeutin.

Es gibt hier viele kluge Gedanken, die zu Ende zu denken sich Bukowski scheut. Stattdessen gibt es sechs auf den Punkt motivierte Schauspielerinnen und Schauspieler zu sehen, die auf lustigen kleinen Xylophonen herumklopfen. Es gibt drollige Kostüme wie Polizistinnen mit Helmen aus Christbaumkugeln und tiefe Songs von Frau Amuat. Die Kamera oktroyiert die Wahrnehmung, steuert die Interpretation gleich mit, verharrt nur selten in der Totale. Es ist sehr flott, es könnte auch scharf sein, doch lieber nehmen Text und Inszenierung die Abzweigung in ein zu uneigentliches Kasperletheater.

Marienplatz , Streams noch am Sonntag, 27. Dezember, und Mittwoch, 30. Dezember, 19 Uhr, unter www.residenztheater.de

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SZ vom 22.12.2020
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