Süddeutsche Zeitung

Tassilo:Klappe auf

Lesezeit: 3 min

In seinem Briefkasten sammelt der Verein Poesieboten Rap und Reime, Lustiges und Tiefsinniges

Von Christina Seipel

"Poesie ist überall, auch an Orten, an denen man sie nicht vermutet." Dieses Prinzip hat sich Katharina Schweissguth zu eigen gemacht. Für die Giesingerin war es deshalb auch nicht ungewöhnlich, einen poetischen Spaziergang entlang der viel befahrenen Tegernseer Landstraße zu gestalten, an dem Teilstück wohlgemerkt, an dem sie zum Mittleren Ring wird. An verschiedenen Stationen konnten die Teilnehmer jedoch nicht nur ihre Gedichte vortragen, sondern auch idyllisch grüne Flecken entdecken etwa in den Hinterhöfen. Während die freischaffende Künstlerin und Grafikerin von den unterschiedlichen Projekten erzählt, die sie mit ihrem Verein Poesieboten auf die Beine gestellt hat, leuchten ihre grau-blauen Augen vor Begeisterung.

An der beschaulichen Wirtstraße, unweit der achtspurigen Hauptverkehrsachse, hängt an der Wand der Hausnummer 17 der knallrote Poesiebriefkasten mit dem die Geschichte der Poesieboten ihren Lauf nahm. Seit September 2013 macht er die Klappe auf für Gedichte jeglicher Art - ob gereimt oder ungereimt, Sonett, Rap oder Gstanzl. Jeden Monat schluckt er an die 30 Werke, manche in kalligrafischer Schrift verfasst, andere mit Zeichnungen oder Gemälden gespickt. Viele befassen sich, ganz in der Tradition der Romantik, mit der Natur und den Jahreszeiten. "Liebesgedichte sind ebenfalls ein Klassiker", berichtet Schweissguth. Aber auch um das Thema Einsamkeit drehen sich seit der Corona-Pandemie immer mehr Werke. In solchen "Poesie-Therapie-Gedichten" wie Schweissguth sie nennt, geben Dichter und Dichterinnen oftmals Autobiographisches preis. Eine junge Frau etwa, die in der Schulzeit gemobbt worden sei, habe darin ihre Gedanken und Gefühle verarbeitet, erzählt die Münchner Künstlerin.

Ganz gleich um welches Thema oder welche Stilart es sich auch handelt, bei den Poesieboten finden alle Gedichte Gehör, ob über Lesungen, in Ausstellungen oder anderen Aktionen. Auf offenen Poeten-Bühnen und bei Spaziergängen durchs Viertel kommen die Dichter selbst zu Wort. Anders als beim Poetry-Slam will der Verein Poesie jedoch nicht werten. Ganz im Gegenteil. Schweissguth verfolgt eine "unkomplizierte und konkurrenzfreie Art der Poesie", nach der jedes Gedicht seinen Platz hat. "Jeder hat sein Herzblut in die Zeilen gesteckt", sagt sie anerkennend. Dabei sei es völlig gleich, ob jemand etwas einsende, das sich reime oder nicht. Was zählt sei, das es authentisch ist. "Das versteht jeder. Das wirkt", bekräftigt die Hobby-Poetin und betrachtet die unterschiedlichen Gedichte, die an der Wand und an einer Leine im Minimuseum Spix hängen. Das Ladenlokal an der Spixstraße haben die Poesieboten 2017 mit finanzieller Unterstützung des Giesinger Bezirksausschusses (BA) angemietet. Etwa 3000 Gedichte aus dem Poesiebriefkasten lagern dort im Archiv, schätzt die gebürtige Giesingerin.

Als Kind las Katharina Schweissguth die dicken Bücher von Wilhelm Busch. "Mir hat es schon immer gefallen, wenn es sich gereimt hat", verrät die leidenschaftliche Poetin. Später habe sie den Weltschmerz, den sie als junge Erwachsene empfand, in Gedichten ausgedrückt. Gelesen hat sie niemand. Sie landeten oft in der Schublade, manchmal auch im Papierkorb. Dass jemand ihre Verse lesen wolle, daran hatte Schweissguth lange nicht geglaubt. Bis ihr die Idee kam, für Menschen, denen es ähnlich ergeht, eine Plattform zu schaffen. Schnell entfaltete das einst temporäre Projekt seine Eigendynamik. Aus den regelmäßigen Poetentreffen entstand der Verein Poesieboten, der heute rund 30 Mitglieder zählt.

Katharina Schweissguth ist immer wieder erstaunt, "dass es so viele Menschen gibt, die dichten". Der Briefkasten sei dabei "das richtige Mittel", findet sie. Er verspreche Anonymität und sei trotzdem "sehr persönlich". Mittlerweile ist der Poesiebriefkasten in Giesing eine kleine Institution. Die Zusendungen kommen aus ganz Deutschland. Sogar Gedichte aus der Schweiz und Österreich waren schon dabei, berichtet die Initiatorin stolz.

Um das Bedürfnis nach kulturellem Austausch auch in Zeiten von Corona zu gewährleisten, haben die Poesieboten Angebote geschaffen, die kontaktfrei funktionieren. Auf ihrem YouTube-Kanal kann man im Rahmen der Aktion "Gedicht des Monats" Online-Lesungen lauschen oder die Werke bei einer Spazierausstellung durchs Viertel betrachten.

Katharina Schweissguth könnte noch von unzähligen weiteren Projekten aus den vergangenen acht Jahren Poesiebriefkasten erzählen: "Ich verbinde damit viele nette Erlebnisse." Einmal etwa hatte eine Zusenderin das Gedicht eines Unbekannten auf einem Plakat am Kolumbusplatz entdeckt und eingereicht. "Es war ein schönes Frühlingsgedicht von jemandem, der sich Wärme herbeisehnte", erinnert sich Schweissguth mit einem Lächeln und rezitiert: "Will wieder barfuß gehen bis zum Hals." "Die Welt poetischer zu machen" ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden.

Wenn Sie eine Kandidatin oder einen Kandidaten vorschlagen wollen, schreiben Sie bitte bis 30. April eine E-Mail an tassilo@sz.de.

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SZ vom 28.04.2021
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