Süddeutsche Zeitung

Szene München:Biotop im Bierzelt

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Wer einen Münchner Club betritt, weiß schon vorher, wer im Inneren tanzt und flirtet. Anders zur Wiesn: In ihren Dirndl und Lederhosen sehen zwar alle Bierzeltbesucher gleich aus - sind es aber nicht.

Lisa Sonnabend

Der seltsame Typ mit der Ukulele war immer da. Freitags tanzte er zu Britpop, samstags saß er an der Bar. Mittlerweile leitet er eine große Firma, hat dem Nachtleben abgeschworen. Doch auch heute weiß jeder, der das Atomic Café betritt, schon vorher, wer da ist. Die immer gleichen Typen lehnen am Tresen, und in der Mitte des Clubs tanzen Jungs mit Pony, der über die linke Stirn fällt, und Mädchen mit Pferdeschwanz. Die einzigen Personen, die hier nicht zum Inventar gehören, sind die Bands, die für einen Gig vor dem Glitzervorhang vorbeischauen.

Auch wer in der Schlange vor der 089-Bar steht, kann sich bereits denken, wer im Inneren flirtet: Kinder wohlhabender Eltern. In der Kneipe Atzinger trinken Studenten und Professoren der Geisteswissenschaft ihr Bier, im Podium hören Alt-Schwabinger alte Rocksongs.

Ein anderes Bild bietet sich ausgerechnet auf dem Oktoberfest. In Dirndl und Lederhose sehen zwar alle Besucher gleich aus, sind es aber nicht. Zugegeben: Im Schottenhamel trinken ein paar mehr junge Münchner, im Käferzelt verhältnismäßig mehr Großkopferte, im Hofbräuzelt viele Touristen aus Australien oder Äquatorialguinea und in der Ochsenbraterei einige Traditionelle. Doch an einem Abend im Bierzelt kommt immer alles anders als gedacht. Und vor allem: immer wer anderes.

Mal prostet der Besucher einem Freiberufler zu, mal einem Freibeuter, mal einem Briefmarkensammler, mal einem Brummigen, mal einem Kraftfahrer, mal einem Kraftausdrückeverwender. Die Gespräche kreisen mal um Bettina Wulff, mal um Bundesliga, Belletristik, Beautyprodukte oder Brauchtum. Nie um dasselbe.

Doch jeden Abend um 22.30 Uhr wird das Bierzelt-Biotop zerstört. Der Ausschank endet, die After Wiesn beginnt. Die Dirndl und Lederhosen trennen sich, jeder stellt sich an: vor seinem Club.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2012
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