Süddeutsche Zeitung

Wartaweil:Ein scheinbares Idyll

Lesezeit: 5 min

Die Geschichte des Entbindungs- und Säuglingsheims Wartaweil wartet auf ihre Aufarbeitung. Zu viel liegt noch im Dunkeln

Von Christine Setzwein, Wartaweil

Es ist die pure Idylle am Ufer des Ammersee im beschaulichen Flecken mit dem geheimnisvollen Namen Wartaweil. Der weitläufige Park mit dem prächtigen weißen Haus liegt direkt am Ufer. "In der Frühlingssonne auf der riesigen Terrasse stehen mehrere Reihen von Babybettchen, Kinderwagen mit strampelnden, schreienden oder schlafenden Säuglingen werden von weiß gekleideten Schwestern hin und her geschoben", schreibt die Sonntagspost des Süddeutschen Verlags im Jahr 1957. Manchmal, heißt es weiter, beugt sich "eine große, kräftige Frau mit gescheitem, ruhigem Gesicht über eines der Betten". Die Frau im weißen Kittel ist Gertrude Thyssen, Gründerin und Leiterin des Entbindungs- und Säuglingsheims Wartaweil.

Idylle? Nein, idyllisch war die Zeit in Wartaweil für Claudia Pielmann nicht. Die 57-Jährige ist eines der etwa 700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendlichen, die in der Bundesrepublik Deutschland laut dem Fonds Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen lebten. "Der Heimaufenthalt vieler ehemaliger Heimkinder war vielfach von traumatisierenden Lebens- und Erziehungsverhältnissen geprägt", heißt es auf der Homepage des Fonds. Wie diese Verhältnisse in Wartaweil für sie waren, darüber will Pielmann nicht reden. Nur so viel: Als sie 1963 das Haus verlassen durfte, habe sie kein Wort gesprochen, sei unterernährt gewesen und habe an Vitamin C-Mangel gelitten.

Man könnte sagen, Claudia Pielmann ist eine taffe Frau. Die gelernte Schauspielerin - von 1981 bis 1984 absolvierte sie ihre Ausbildung mit Diplom an der Otto-Falckenberg-Schule in München - hat an den Münchner Kammerspielen gearbeitet und in zahlreichen Fernsehproduktionen mitgewirkt. In der Serie "Lindenstraße" spielte sie die Rolle der Elfie Kronmayr. Zur Zeit hat Pielmann kein Engagement. Darum hat sie viel Zeit für Nachforschungen. "Rache ist nicht das Motiv", sagt sie. Aber sie ist der Meinung, dass die Geschichte von Wartaweil zu wenig aufgearbeitet ist und nicht richtig dargestellt wird.

Bekannt ist Folgendes: Gertrud Thyssen, Witwe von Hans Thyssen, eröffnet im Sommer 1945 in der ehemaligen Villa Bräustedt in Wartaweil ein Entbindungs- und Säuglingsheim. Das Haus diente zuvor der Nationalsozialistischem Volkswohlfahrt als Erholungsheim für junge Fabrikarbeiterinnen. "Doch als der Krieg zu Ende ging, saßen auf der sonnigen Terrasse nicht mehr erholungsbedürftige Werktätige, sondern Damen der NS-Reichsleitung. Sie suchten einen Unterschlupf, bis die Amerikaner kamen", schreibt die Sonntagspost. In Herrsching, wo Gertrud Thyssen bis zu ihrem Tod 1969 lebte und wo sie auch begraben ist, war sie eine geachtete Persönlichkeit. Sie bekam das Bundesverdienstkreuz und die Herrschinger Bürgermedaille, auch eine Straße wurde nach ihr benannt. Bis Mitte 1965 sind laut Geburtenbuch in dem Heim mehr als 4000 Kinder geboren worden.

Als Gertrud Thyssen im Juni 1945 erfährt, dass die Amerikaner das große Haus bald räumen würden, wird sie sofort tätig. Sie "kannte die Amerikaner und ihre Vorliebe für Babies", schreibt die Sonntagspost. Schon am 1. Juli hat Thyssen die Genehmigung für das Kinderheim. Damit wird auch ihr Traum war. Schon in jungen Jahren wollte sie, die Tochter des Reichsbankdirektors Schmidt-Scharrer, Hebamme werden. Die Eltern sind entsetzt, Gertrud darf Säuglingspflege lernen, Hebamme nicht. Die standesgemäße Einheirat in die mächtige Unternehmerfamilie Thyssen beendet schließlich ihren Jungmädchenwunsch.

In Wartaweil leben nach dem Krieg ständig 80 bis 85 Kinder, zwei Drittel sind Säuglinge die anderen Kinder bis zu vier Jahre alt. Die Sonntagspost berichtet: Da sind Kinder, "deren Mütter herumvagabundieren (eine von Frau Thyssens "langjährige Kundinnen" brachte vor kurzem ihr achtes uneheliches Kind zur Welt, und jedes hat einen anderen Vater) und Kinder aus gut gehenden bürgerlichen Ehen, die nur vorübergehend untergebracht sind, solange die Mutter krank ist, Kinder aus Studentenehen, für die in einer "möblierten Bude" beim besten Willen kein Platz ist, und uneheliche Kinder sehr junger Mädchen, die im gutbürgerlichen Hause der Großeltern ängstlich verschwiegen werden, Kinder, auf die ein Elternpaar wartet, und Kinder, für die erst Adoptiveltern gesucht werden".

Alles schön und gut, meint Claudia Pielmann. Was sie ärgert ist, dass ein Name fast immer verschwiegen wird, wenn es um das Kinderheim in Wartaweil geht: der von Louise Silverberg, der 1905 in Köln geborenen Tochter des deutsch-jüdischen Großindustriellen Paul Silverberg. Sie war gelernte Hebamme - und eine langjährige Freundin von Gertrud Thyssen. Beide Frauen hätten den Plan gefasst, in Wartaweil ein Entbindungs- und Säuglingsheim zu gründen, schreiben Marie Claire Jur und Joachim Jung 2001 in einer Dokumentation, die die Stiftung Biblioteca Engiadinaisa in Auftrag gegeben hatte. Danach hat Louise Silverberg das Heim in Wartaweil als ihr "Lebenswerk" bezeichnet. 1957 verließ sie den Ammersee in Richtung Oberengadin, wo sie eine Bibliothek gründete. Zum einen, meinen Jur und Jung, sei sie deshalb weggegangen, weil sie die ersten schädigenden Wirkungen "ihres übermäßigen Nikotingenusses zu spüren" bekommen habe. Zum anderen soll die Freundschaft zwischen den beiden Leiterinnen von Wartaweil in die Brüche gegangen sein. Und dann war da ja auch noch Marianne Hauer, die Sekretärin in Wartaweil war. Silverberg und die Witwe Hauer kamen sich laut Jur und Jung im Laufe der Jahre näher. So nahe, dass Hauer der Freundin sogar 1957 ins Engadin folgte, obwohl sie Herrsching nur schweren Herzens verließ. Denn die gemeinsame Zeit mit ihrem Mann Gerhard Hauer, Oberregierungsrat an der dortigen Finanzschule, zählte sie zu den glücklichsten Jahren. 1944 starb Hauer vor Moskau an den Folgen einer Beinverletzung.

"Warum wird immer nur Gertrud Thyssen als Wohltäterin genannt?", fragt sich Claudia Pielmann. Außerdem, hat die Münchnerin herausgefunden, waren beileibe nicht alle Frauen in Wartaweil erwünscht. Die sogenannten Hausschwangeren, die mitarbeiten mussten, konnten zwar "zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft" aufgenommen werden, nicht erwünscht waren allerdings "asoziale Elemente und kranke Schwangere. Die Hausschwangeren haben täglich zwei Freistunden, sowie jede Woche einen freien Tag und jeden 2. Sonntagnachmittag frei." Nachzulesen auf der Homepage des "Vereins ehemaliger Heimkinder". Und war die

Leitung des Heimes mit den Leistungen oder mit der Führung der Betreffenden nicht zufrieden, "kann sie jederzeit die Schwangeren entlassen".

Claudia Pielmann hat noch mehr Fragen: "Wie kam es zu der doch wohl überdurchschnittlich hohen Zahl der Adoptionen in den Nachkriegsjahren? Wie viele Kleinkinder und Säuglinge wurden zum Beispiel in die USA vermittelt? Mit oder ohne Wissen der Mütter? Mit oder ohne Druck auf die Mütter?" Sie wünscht sich von der Gemeinde Herrsching, dass sie sich als Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder zur Verfügung stellt, dass Waisenkinder, die sich dort melden, die Möglichkeit bekommen, sich miteinander zu vernetzen. Außerdem sollten die Kommune und die Familie Thyssen Dokumente freigeben und die Geschichte des Heims aufarbeiten. "Jedes Heimkind hat ein Recht auf seine Familiengeschichte und alles was dazu gehört. Jedes Heimkind hat ein Recht auf seine Vergangenheit, damit es sie bewältigen und verarbeiten kann", fordert Pielmann. Sonst, meint sei, bleiben diese Menschen immer "Mischwesen".

Für den Sommer 1965 hatte der Landkreis Starnberg, der damalige Mieter des Anwesens am Ammersee, die Auflösung des Kinderheims beschlossen. Das geht aus einer Anfrage des FDP-Abgeordneten Erich von Loeffelholz am 10. Mai 1966 im Bayerischen Landtag hervor. Aber bis März 1966 durfte die Bruderschaft Salem den Betrieb noch weiterführen. Heute steht auf dem Grundstück das deutschlandweit einzige, vollkommen behindertengerechte Schullandheim.

Claudia Pielmann war 1960 als Baby nach Wartaweil gekommen. Ihre Mutter Arlette hatte sich gerade von ihrem Mann, dem Maler Edmund Georg Pielmann getrennt. Weil sie ihn gegen den Willen ihres Vaters, des vermögenden Wuppertaler Schraubenfabrikanten Gerd Tigges, geheiratet hatte, war sie enterbt worden. Arlette - gelernte Krankenschwester, Schauspielerin, Malerin und Fotomodell - musste Geld verdienen. 1963 holte sie zusammen mit Theodor W. Adorno ihre kleine Tochter aus dem Heim. Arlette Pielmann war die letzte Geliebte des berühmten Philosophen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3249316
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.11.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.