Süddeutsche Zeitung

Einzelhändler unter Druck:"Es brennt an allen Ecken"

Lesezeit: 3 min

Sie haben sich mit dem Internethandel arrangiert und die Corona-Zeit überstanden. Nun kämpfen die Tutzinger Händler zusätzlich zu den Preissteigerungen noch mit der Dauerbaustelle im Ort. Ein Rundgang.

Von Viktoria Spinrad, Tutzing

Die Tür geht auf. "Ja hallo, da seid ihr ja wieder!", sagt Erica Hoyer. Die 54-Jährige mit den wachen Augen und dem breiten Lächeln schwebt hinter der Verkaufstheke ihres Spielwarenladens hervor. Davor stehen Mutter und die Tochter, vielleicht vier Jahre alt, man kennt sich. Die Mutter lässt den Blick durch den kunterbunten und vollgepackten Laden wandern. Über die Brotdosen, Halloweenspinnen, die bunten Puppen. "Ist ja ein Paradies hier", sagt sie. Kurze Zeit später hält die Tochter ein Legohaus in den Armen, das fast größer ist wie sie. "Eigentlich wär's zehn Euro teurer, aber ich mach's euch günstiger", sagt Hoyer und tippt etwas in ihre Maschine.

Dienstagvormittag in Tutzing, Spielwaren Hoyer. Draußen in der Kirchenstraße ist tote Hose, drinnen im quietschfidelen Laden dudelt "It's alright" von David Guetta aus dem Radio. Aber so richtig alright ist hier schon länger nichts mehr. Erst Corona, wo Hoyer trotz Lieferdienst und Abholservice vielleicht noch ein Fünftel des normalen Umsatzes verdiente. Dann nach einem kurzen Hoch Krieg, Inflation, Energiepreisexplosion. Dazu die Dauerbaustelle im Ort. Der Laden ist Hoyers Lebenswerk. "Ich arbeite nicht. Das hier ist mein Leben", sagt sie. Doch nun ist sie im Minus und weiß nicht so recht, wie es weitergehen soll.

Der befürchtete Genickbruch vieler Tutzinger Händler prangt nur wenige Meter die Straße hoch in Form eines riesigen umzäunten Lochs im Kirchenstraßenboden. Er prangt in der Hauptstraße, wo sich die Autos an einem Riesenkran vorbeischieben. Und weiter nördlich begrüßt er die Besucher in Form einer Ampel und einer einseitigen Straßensperre. Hier stehen die Autofahrer nun manchmal 15 Minuten, um überhaupt nach Tutzing reinzukommen. Das schreckt die Kunden aus den umliegenden Orten, die ja auch schon immer die Lebensader des Tutzinger Einzelhandels waren, offenbar gehörig ab. In vielen Läden herrscht Flaute, Händler bangen um ihre Existenz.

"Ganze Geschäftsbeziehungen drohen zusammenzubrechen", sagt Roberto Mestanza. Der Informationstechnikmeister ist Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Tutzinger Gewerbetreibender (ATG) und damit Sprachrohr für die Sorgen und Nöte der Händler. Das ausgeprägte Miteinander im Ort drohe unter die Räder zu kommen, sagt er. Die ATG fordert deshalb ein Ende der Einlassampel vor dem ersten Advent, eine enge Kommunikation mit der Baustellenleitung, gezieltes Marketing in Feldafing und Pöcking sowie ein Parkkonzept für Tutzing.

Es ist ein Dilemma: Die kostspielige barrierefreie Neugestaltung der Tutzinger Hauptstraße und der Gehwege inklusive Fahrradschutzstreifen und Querungshilfen gilt als längst überflüssig. Zumal hierbei gleich auch noch die Trinkwasserleitung erneuert und Leerrohre für mögliche Glasfaserkabeln verlegt werden. Zugleich bringt der Ausbau nun gerade die in Not, die gehofft hatten, mal durchschnaufen zu können vom geschäftlichen Dauerkampf. Wobei hier kaum noch auseinanderzudividieren ist, was jetzt noch Corona und Lieferschwierigkeiten, was schon Inflation und was nun der Baustelle zuzuschreiben ist.

Das weiß auch Thomas Thallmair vom gleichnamigen Sportladen in der Hauptstraße. "Es brennt an allen Ecken", sagt er. Die Baustelle sei dabei eigentlich nicht sein Hauptproblem. Dann spricht er über den Krieg, die Energiepreise, die schwindende Kaufkraft und Lieferschwierigkeiten. Ein Fünftel weniger als noch im Vorjahr habe er im September verdient. Allerdings sei der vergangene Corona-Herbst eben auch ein sehr starker gewesen. "Da ist jeder zum Wandern gegangen und Stand-up-Paddle gefahren", sagt er. Im Vor-Corona-Vergleich sei man wiederum stabil. Zumindest jetzt noch. Es sei ja fraglich, ob sich die Leute diesen Winter noch teure Skiausrüstung leisten werden. Bei aller Demut und allem positiven Denken: "Die dicken Jahre sind rum."

Zwei Gehminuten weiter die Hauptstraße runter haben die dicken Jahre gar nicht erst anfangen können. Dort betreibt Andrea Nocker zusammen mit einer Geschäftspartnerin seit Mai 2021 die Boutique "per.due". Am Dienstag ist auch hier tote Hose. Aus den Boxen läuft Loungemusik, in der Ecke steht die Kaffeemaschine still. 30, 40 Prozent weniger als im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet Nocker. Ihr Laden ist zugleich so etwas wie ein Realitätstest für die vielen Gründe, die den Händlern das Geschäft mau machen. Denn Nocker betreibt zugleich noch eine Boutique in Murnau. "Da haben wir nichts anders gemacht", sagt sie. Und die laufe sehr gut. Nun muss sie das schlechte Tutzinger Geschäft mit dem guten in Murnau quersubventionieren. Dass in Bernried nur ganz klein stehe, dass die Geschäfte anfahrbar seien, mache es eben nicht einfacher, sagt sie.

Straßauf ist Thallmair derweil kreativ geworden. Von November an werde er online gehen, sagt er. Direkt aus dem Laden heraus werde er dann Pakete verschicken. Ein Amazon-Konto als Lösung? In der westlichen Parallelstraße schüttelt Spielzeughändlerin Erica Hoyer energisch den Kopf. Sie wolle nicht Teil von dem sein, was die Händler kaputtmache, sagt sie. Und der Aufwand bei kleineren Onlineshops lohne sich schlicht nicht. Sie bückt sich jetzt runter zu dem kleinen Mädchen mit dem großen Legohaus in den Armen. "Schau mal, Mäuschen", sagt sie und gibt dem Kind noch einen Luftballon mit. Er ist gelb, die Farbe von Licht, Erhellung, Hoffnung.

An diesem Mittwoch, 5. Oktober lädt die Aktionsgemeinschaft Tutzinger Gewerbetreibender (ATG) zur Krisensitzung mit der Bürgermeisterin. Treffpunkt ist um 18.30 Uhr bei Lobster Data in der Bräuhausstraße 1.

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